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Marwa el-Sherbini: "Sie stirbt. Sie stirbt"

Im Mordprozess Marwa el-Sherbini schildert ein Richter als Zeuge die letzten Minuten des Opfers. Vor vier Monaten tötete ein 28-Jähriger im Gerichtssaal die junge Frau mit 16 Messerstichen.

Die Gerichtsmedizinerin stockt auf einmal, sie sieht nach rechts auf die Bank der Nebenkläger: „Ich muss … ich muss es ja sehr ausführlich machen“, sagt sie. „Und hier sitzen so viele Angehörige der Toten …“ Die Vorsitzende Richterin Birgit Wiegand sieht zu Elwy Okaz herüber, dem Mann, dessen Frau in diesem Gerichtsgebäude vor fast genau vier Monaten vor seinen Augen erstochen wurde. Okaz nickt kurz. Und Wiegand sagt: „Herr Okaz möchte bleiben.“

Dann trägt Christine Erfurt vom Institut für Rechtsmedizin der Technischen Universität Dresden vor, was sie und ihre Kollegen an jenem Tag über die genauen Umstände des Todes von Marwa el-Sherbini herausgefunden haben. Die Sektion der Leiche dauerte bis in den Abend hinein, sechs Stunden lang, „weil es eben sehr viele Verletzungen waren“, sagt Erfurt. Sie zählte drei Stiche in die Brust, 13 Mal traf der 28-jährige Alex W., gegen den Marwa el-Sherbini in einem Beleidigungsprozess ausgesagt hatte, die 31-Jährige in den Rücken. Die tiefste Verletzung ist 17 bis 18 Zentimeter lang, so lang wie die Klinge des Täters. W.’s Messer muss Marwa el-Sherbini wie im Stakkato getroffen haben. „Wir haben auf Anhieb vermutet, dass die Rückenverletzungen am Boden erfolgten“, sagt die Gutachterin. Die Staatsanwältin des Beleidigungsprozesses: Alex W. habe unablässig auf sein Opfer eingestochen, auch als es schon am Boden lag. Als sein Pflichtverteidiger ihn mit einem Tisch abwehrte, habe er sogar die Tischplatte übersprungen.

Die Gerichtsmedizinerin berichtet, es seien mehrere Rippen durchstoßen und ein Stück des Schulterblatts abgesprengt worden. „Es muss also erhebliche Wucht gewirkt haben“, sagt Erfurt. Sie wird nach typischen „Abwehrverletzungen“ gefragt. Nein, sagt Christine Erfurt, die habe sie nicht gefunden. Marwa el-Sherbini hat anscheinend keine Chance zur Verteidigung gehabt.

Elwy Okaz erträgt die Ausführungen der Gutachterin äußerlich ruhig, ab und an atmet er tief, den Blick wendet er nur einmal von ihr ab und senkt für einen Augenblick den Kopf. Okaz hat seine Frau offenbar mit aller Kraft verteidigt und wurde dabei selbst lebensgefährlich verletzt. Am Messer des Täters finden die Fachleute vom Landeskriminalamt später den Abdruck seiner linken Handfläche. Okaz’ Vater sitzt in der ersten Reihe des Zuschauerraums. Er kämpft während des Berichts über seine tote Schwiegertochter mit den Tränen.

Wucht und Wut des Angriffs – er verstehe das auch im Nachhinein noch nicht, sagt Tom M., der Richter, der die Verhandlung gegen Alex W. am 1. Juli führte und jetzt im Mordprozess als Zeuge vor seinen Kolleginnen und Kollegen sitzt. „Für mich gab es keine Anhaltspunkte.“ Die Familie el-Sherbini hat ihn angezeigt, weil sie vermutet, dass er zu wenig zu Marwas Rettung getan hat. Jetzt gibt es ein Ermittlungsverfahren – obwohl die Ankläger kurz nach der Tat noch meinten, es gäbe nicht den geringsten Anlass dafür. Alex W., der die kopftuchtragende Marwa el-Sherbini ein Jahr zuvor auf einem Spielplatz als Islamistin und Terroristin beschimpft hatte, hat M. zufolge die ganze Zeit über ruhig gewirkt, „sehr sachlich und nicht unfreundlich“. Unsicher, unreif vielleicht. Aber „ich hatte den Eindruck, dass man mit ihm reden kann“.

Richter M. spricht auch über Marwa el-Sherbini: „Eine sehr kultivierte, sehr sympathische, gepflegte Frau. Sie hat sehr gut Deutsch gesprochen, weitaus besser als der Angeklagte.“ Sie und ihr Mann hätten ihm auf Anhieb gefallen. Sie habe sich auch von den provozierenden Fragen des Angeklagten, was sie in Deutschland zu suchen habe, nicht hinreißen lassen. Zum Schluss der Verhandlung habe sie noch einmal um das Wort gebeten: „Sie sagte, der Islam sei eine Religion des Friedens. Deshalb verstehe sie gar nicht, wieso der Angeklagte so auf sie reagiert habe.“ Sie habe sich dabei Alex W. direkt zugewandt, sagt M.

M., ein 46-jähriger, erfahrener Richter, ist noch immer krankgeschrieben. Er kann die Tränen nicht mehr zurückhalten, als er von den Minuten nach der Tat erzählt. Er kauerte neben dem schwer verletzten Elwy Okaz, der seine Finger in die des Richters krallte und immer wieder sagte: „Sie stirbt, sie stirbt.“ „Nein, sie stirbt nicht“, sagte der Richter, und dass er jetzt durchhalten müsse. Da war Marwa el-Sherbini schon tot.

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