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Politik: Massaker vor laufender Kamera

Zehn Jahre danach zeigt Belgrads Fernsehen Bilder aus Srebrenica – Überlebende und Täter sind erschüttert

Von Caroline Fetscher

„Ich habe ihn gesehen“, sagt Nura Alispahic, „meinen Sohn, meinen Azmir! Er war der Zweite in der Reihe. Er dreht sich einmal um, ich konnte sein Gesicht ganz deutlich erkennen.“ Alispahic ist nicht die Einzige: Auf dem Video, das die Exekution männlicher Zivilisten aus Srebrenica im Sommer 1995 dokumentiert, haben inzwischen mehrere Verwandte die Opfer erkannt – etwa die Verwandten des 17-jährigen Safet Fejzic. Azmir war damals gerade 16 Jahre alt, er hatte versucht, sich im Juli 1995 aus dem eingekesselten Srebrenica in die Wälder zu flüchten. Den Leichnam von Azmir hatten Forensiker schon vor Jahren in einem Massengrab identifiziert. Er wurde am 11. Juli 2003 auf demFriedhof bei der Gedenkstätte Potocari nahe Srebrenica beerdigt. Alispahic, 60 Jahre alt und schwere Diabetikerin, steht unter Schock, nachdem sie das Video im serbischen Fernsehen gesehen hat. Sie lebt in einem Flüchtlingslager nördlich der bosnischen Stadt Tuzla und ist, wie andere Angehörige auch, zu traumatisiert, um Interviews zu geben. Munira Subasic, Sprecherin der Gruppe „Mütter von Srebrenica“, fordert, dass der vollständige Film auf der ganzen Welt im Fernsehen gezeigt wird: „Alle sollen wissen, welche Verbrechen hier geschahen.“

Anders als westliche Medien strahlte das serbische Fernsehen die Bilder der Exekution vollständig aus und ließ auch die Gesichter klar erkennbar. Verzichtet haben aber auch serbische Medien darauf, die Folterszenen zu zeigen, die den Exekutionen vorausgegangen waren, und die von den Tätern ebenfalls gefilmt wurden. Entsetzt verfolgten die Zuschauer in Serbien-Montenegro die Aufzeichnung der zehn Jahre zurückliegenden Exekutionen. Nach Meinungsumfragen hält bis heute mehr als die Hälfte der Bevölkerung Serbien-Montenegros den Fall Srebrenica für eine Lüge. Das könne sich jetzt ändern, vermuten Menschenrechtler wie Borka Pavicevic vom Belgrader Zentrum für kulturelle Dekontamination. Unlängst veranstaltete das Zentrum zum Thema Srebrenica eine Podiumsdiskussion, die nur unter schwerem Polizeischutz stattfinden konnte. Abgeordnete des Parlaments und Menschenrechtsgruppen unter Leitung des ehemaligen stellvertretenden Premierministers Zarko Korac fordern von der Regierung noch vor dem 10. Jahrestag des Massakers von Srebrenica, bei dem 8000 Jungen und Männer binnen einer Woche ermordet wurden, Belgrad müsse das Kriegsverbrechen anerkennen.

Das Video tauchte Anfang der Woche als Beweisstück der Anklage im Prozess gegen Slobodan Milosevic vor dem UN- Tribunal in Den Haag auf. Die Anklage will nachweisen, dass nicht allein bosnische Serben in der Republik Srpska an dem Massaker beteiligt waren, sondern auch Einheiten, die direkt unter dem Befehl Milosevics in Serbien standen.

„Geht hin und kehrt zurück mit Gottes Segen“, hatte der orthodoxe Priester Jeromonah Gavrilo Maric im Kloster der Stadt Sid den „Skorpionen“ mit auf den Weg gegeben, als die Militäreinheit nach Srebrenica zog. Dass Gravrilo die Täter gesegnet hat, löst in Serbien Empörung aus. Die Belgrader Zeitung „Danas“ zitiert den Publizisten Mirko Djordjevic mit dem Vorwurf, die Serbisch-Orthodoxe Kirche sei „nicht nur Zeuge, sondern Mittäter im vergangenen Krieg gewesen“. Djordjevic meint, der Geistliche rufe „zu Krieg, Blut und Bösem in einer Szene auf, die wir dem Mittelalter zuschreiben“.

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