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Die öffentliche Brutalisierung kann man vor allem im Großstadtverkehr beobachten.

© Thilo Rückeis

Gesellschaftliches Klima: Wir müssen mehr Empathie wagen

Die gesellschaftliche Atmosphäre hat sich verändert, die Brutalisierung des öffentlichen Lebens ist unübersehbar. Es ist Zeit für einen Ruck. Ein Kommentar.

Es gibt in Deutschland nicht nur die oft beklagte Kluft zwischen Reich und Arm. Da ist auch eine andere Schere, die sich seit einigen Jahren spürbar weiter geöffnet hat und ins Gefüge der Gesellschaft schneidet. Jede und jeder kann das täglich erleben und manchmal auch erleiden: die Kluft zwischen Menschen, die sich gegenüber anderen respektvoll, freundlich, mitfühlend und in der Mehrheit auch solidarisch verhalten – und denen, die saugrob, ruppig, gefühllos, aggressiv auftreten.

Nicht erst mit der Flüchtlingskrise oder den Wahlerfolgen von demagogischen Populisten und Egoshootern hat sich das gesellschaftliche Klima verändert. Doch spätestens seitdem wüten im Internet, auf Wahlkampfplätzen und Demonstrationen selbst bürgerliche Mitmenschen gegen Politiker, Journalisten, Andersdenkende, als seien demokratisch-zivilisatorische Mindeststandards bloß noch Schnee von vorgestern.

Öffentliche Brutalisierung

Man kann es auch auf Autobahnen oder im Großstadtverkehr nur zu ungern beobachten. Gerade in Berlin ist auffällig, wie selbstverständlich immer mehr Autofahrer noch bei Rot über Ampeln preschen, wie Tempolimits, Fußgängerüberwege missachtet und selbst Kinder vor Schulen und Kitas rücksichtslos gefährdet werden. Radfahrer sind da erst mal die Schwächeren. Aber auch viele von ihnen gerieren sich rechthaberisch wie Kamikazebiker, oft ohne Licht und mit gerecktem Stinkefinger. Ein anderes aktuelles Phänomen der öffentlichen Brutalisierung sind die sogenannten Gaffer, die, statt zu helfen, bei Unfällen und Katastrophen die Opfer mit ihren Handys filmen und sich zudem aggressiv gegenüber Rettungskräften und Polizei verhalten.

Nein, hier geht es nicht ums Lamentieren, nicht um die Rubrik „Opa Knigge erzählt vom Vorkrieg“. Es war auch früher nicht alles besser. Trotzdem sind die Verwerfungen offensichtlich. Reden wir gar nicht erst von Exzessen, ob am Alex, bei Demos oder auf dem Schulhof. Die Hemmschwellen sinken auch schon weit unterhalb der direkten Gewalt.

So nimmt, entgegen allen zivilgesellschaftlichen Anstrengungen, weniger Schmutz und Abfall zu hinterlassen, die öffentliche Verwahrlosung in Berlin sichtbar zu. Man stellt den Nachbarn die nicht zu verschrottende Waschmaschine oder Kloschüssel immer ungehemmter vor die Haustür, wirft den nicht mehr gebrauchten Hausrat auf die Straße. Ist mir egal, ob das Mitmenschen stört, nervt oder verletzt. Soll’s der Staat, soll’s der (immer andere) Steuerzahler richten. So, als gehöre man selbst gar nicht dazu. Autonom? Nein, selbstsüchtig.

Ein Zeichen setzen

„Nicht nur zur Weihnachtszeit“ heißt eine der schönsten Geschichten des gerade wieder gefeierten Heinrich Böll. Ja, nicht nur zu Weihnachten wäre es Zeit für einen Ruck. Gegen den gesellschaftlichen Riss. Im internationalen Fußball gibt’s noch immer die Kampagnen gegen Rassismus und für Respekt. Das hat nicht alle Fanatiker zum Verschwinden gebracht. Aber ein Zeichen gesetzt. Und bevor es unterm Banner „Law and Order“ so richtig rigid wird, wäre noch an ein Zusammenspiel von Politik, Pädagogik und Polizei zu denken.

Mit Aufklärung, Erziehung und mehr Nachdruck ginge es frei nach Willy Brandt darum, mehr Empathie zu wagen. Denn wer sich in andere nicht eindenken und einfühlen kann, kennt keine Rücksicht und bleibt – ein sozialer Krüppel. Das neue Modewort Narzisst ist dafür noch viel zu viel Ehre.

- Anmerkung der Redaktion: In einer früheren Version stand am Ende des fünften Absatzes: "Autonom? Nein, autistisch." Dafür entschuldigen wir uns.

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