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Der Bundestag, hier im Schatten Europas

© picture alliance / dpa

Transparenz im Bundestag: Mehr Wissen, weniger Schlagzeilen

Die Informationen des Parlaments werden öffentlich – und beschränken damit die Möglichkeiten der Abgeordneten, in die Medien zu drängen.

Knapp zwei Wochen benötigte Bundestagspräsident Norbert Lammert, um den Volksvertretern kundzutun, was sich da im Namen des Volkes Wichtiges ereignet hat: Das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig habe ein „grundsätzliches Urteil gefällt, das die Arbeit der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestags betrifft“, heißt es in einem Rundschreiben Lammerts von Anfang Juli, dann schildert er die Konsequenzen und neuen Regelungen, die das Urteil erfordere. Für die bürokratischen Abläufe mögen sie kaum erheblich sein. Die Folgen für die alltägliche parlamentarische Arbeit durfte sich jeder Abgeordnete selbst ausmalen.

Die Wissenschaftlichen Dienste (WD) sind der Thinktank der Mandatsträger und ein wichtiger Teil der Großbehörde Deutscher Bundestag mit insgesamt 2600 Mitarbeitern. Die Experten, überwiegend Juristen, sollen die Abgeordneten in die Lage versetzen, kompetent über Gesetze abstimmen und die Regierung kontrollieren zu können. Das geschieht im Jahr rund 2000-mal, jeweils auf konkrete Anfrage. Das bereitgestellte Wissen steht den Abgeordneten in Form von Gutachten exklusiv zur Verfügung. Ohne Genehmigung dürfen sie es zwar nicht veröffentlichen oder an Dritte weiterreichen, ansonsten aber können sie damit verfahren, wie es ihnen beliebt und nutzt – sie können es im Papierkorb entsorgen oder Politik damit machen.

Das von Lammert beschriebene Urteil des Bundesverwaltungsgerichts stellt die bisherigen Gepflogenheiten auf den Kopf. Denn die Richter ordneten die Anfertigung der Gutachten nicht dem Parlament zu, sondern dem Bundestag als Behörde. Damit fällt die Arbeit der WD unter das Informationsfreiheitsgesetz (IFG), das jedem Bürger Zugang zu amtlichen Akten garantiert. Zwar verfassen die WD traditionell Erklärtexte zu aktuellen politischen Themen, die sie auch veröffentlichen, doch der Hauptteil ihrer Arbeit blieb unter Verschluss. Nun musste Lammert die Abgeordneten „als Auftraggeber“ darüber informieren, dass „alle früheren und künftigen Arbeiten, die die WD für Sie erstellt haben“, auf Grundlage des IFG bei Nachfragen herauszugeben seien. Schon am Tag nach dem Urteil hatte er angeordnet, die Verfassernamen in den Gutachten unkenntlich zu machen. „Im Übrigen stehen Ihnen die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter der Wissenschaftlichen Dienste weiterhin gerne in bewährtem Umfang zur Verfügung.“

Ob es beim bewährten Umfang bleibt? Manch Abgeordneter mag die alte Regelung bevorzugt haben, andere begrüßen die Neuerungen. „Für uns Abgeordnete wird die Arbeit eher leichter, wenn wir die Expertisen nicht als Verschlusssachen behandeln müssen“, meint die Parlamentarische Geschäftsführerin der Linken, Petra Sitte. Und die Grünen jubeln: „Transparenz ist das Gebot der Stunde! Bürgerinnen und Bürger haben ein Recht auf Informationen. Das gilt auch für den Wissenschaftlichen Dienst des Deutschen Bundestages.“

Freilich hat die Transparenz eine Kehrseite, die gerade auch Oppositionspolitiker noch beschäftigen dürfte. Denn die Gutachten waren und sind ein probates Mittel, um den politischen Nachrichtenstrom in erwünschte Richtungen zu lenken. Die „Bundestagsgutachten“ beanspruchen wissenschaftliche Autorität, ihre Autoren sind zu strikter parteipolitischer Neutralität verpflichtet. Das macht sie für den politischen Schaukampf attraktiv. Eine Ausarbeitung, die mit amtlicher Wucht etwa Regierungsvorhaben kritisiert, verschafft mehr Aufmerksamkeit als die übliche oppositionelle Skepsis.

Nicht immer ist da Transparenz das Gebot der Stunde, wie es die Grünen ausgerufen haben. Ein Beispiel: „Parlaments-Juristen rügen Vorratsdaten-Gesetz“ hieß es Anfang Juni auf der Titelseite einer großen deutschen Tageszeitung zum Vorhaben von Bundesjustizminister Heiko Maas (SPD), die vom Europäischen Gerichtshof gekippte Vorratsdatenspeicherung wieder einzuführen. Zwei Gutachten „sorgen für Aufsehen“, wird mitgeteilt, weil der vorgelegte Entwurf zur Speicherung von Telekom-Verbindungsdaten die verfassungs- und europarechtlichen Vorgaben in mehreren Punkten nicht erfülle. Am Schluss wird die Grünen-Politikerin Renate Künast als Vorsitzende des Rechtsausschusses des Bundestags vorgestellt, sie darf die amtlich-wissenschaftliche Kritik aus politischer Warte untermauern: „Wer schwerste Grundrechtseingriffe mit der heißen Nadel strickt, produziert verfassungswidrige Gesetze.“ Pünktlich zur ersten Lesung des Gesetzes als Exklusivmeldung an die Nachrichtenagenturen herausgegeben, war der Tenor einhellig: „Der Gesetzentwurf zur Vorratsdatenspeicherung ist offenbar nicht verfassungskonform“, folgerte etwa „Tagesschau.de“.

Nun hat die Bundestagsverwaltung – zögernd – damit begonnen, auf Anfrage einzelne Gutachten herauszugeben, darunter auch jene zur geplanten Neuregelung der Vorratsdaten. Bei der Lektüre stellt sich heraus, dass der Befund nicht so eindeutig ist, wie die Schlagzeilen glauben machen. „Bei der Prüfung des Gesetzentwurfs anhand der Vorgaben des Bundesverfassungsgerichts (…) ergibt sich, dass sich der Entwurf in weiten Teilen eng an diese Vorgaben hält“, lautet ein Fazit. Das zweite: Dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs ließen sich die Grenzen einer grundrechtskonformen Vorratsdatenspeicherung nicht „trennscharf entnehmen“, es könne „nicht abschließend festgestellt“ werden, ob sich das Projekt an alle Vorgaben halte. Die für die Regierungsseite eher günstigen Ergebnisse wurden der Öffentlichkeit indes vorenthalten. Ebenso ein zweiter Umstand: dass die Grünen-Politikerin Künast beide Gutachten selbst in Auftrag gegeben hatte; vermutlich nicht zuletzt, um die darin erwartete Kritik in die allgemeine Diskussion zu tragen.

Der Text erschien in der "Agenda" vom 3. November 2015 - einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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