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Bärbel Kofler (SPD), die Beauftragte der Bundesregierung für Menschenrechtspolitik

© picture alliance /dpa/Bern von Jutrzenka

Update

Flüchtlingsabkommen EU und Türkei: Menschenrechtsbeauftragte der Regierung stellt Flüchtlingspakt in Frage

Die SPD-Politikerin Bärbel Kofler fordert angesichts der Lage in der Türkei eine "Neubewertung" des Flüchtlingspakts. Die griechische Regierung will eine Alternative zu dem Abkommen.

Das Flüchtlingsabkommen mit der Türkei kann nach Ansicht der Menschenrechtsbeauftragten der Bundesregierung nicht so fortgesetzt werden wie bisher. "Im Lichte der aktuellen Entwicklungen in der Türkei müssen wir umdenken", sagte die SPD-Politikerin Bärbel Kofler den Zeitungen des Redaktionsnetzwerks Deutschland. Kofler forderte eine "Neubewertung" des Flüchtlingspakts.

"Das Abkommen setzt Rechtsstaatlichkeit auf allen Seiten voraus, in der Türkei ist diese zurzeit nicht gegeben", sagte die Regierungsbeauftragte. Wegen der aktuellen Lage in der Türkei nach dem gescheiterten Putschversuch sei es "falsch, wenn wir rechtsstaatliche Entscheidungen dorthin auslagern".

Zwar habe die Türkei viele Anstrengungen zur Versorgung der drei Millionen Syrer im Land unternommen, räumte Kofler ein. Auch sei es richtig, dass Deutschland und die EU sich finanziell daran beteiligten. "Vieles an dem Flüchtlingsabkommen funktioniert jedoch nicht", kritisierte Kofler. Sie beklagte "verschwindend geringe" Zahlen von Syrern, die seit der Unterzeichnung des Abkommens im März legal aus der Türkei in die EU eingereist seien. Problematisch sei zudem die Asylantragstellung in der Türkei. "Wir wissen, dass die Bearbeitung der Asylanträge von Afghanen, Irakern und Iranern in der Türkei nicht nach rechtsstaatlichen Regeln erfolgt", sagte Kofler und forderte: "Darüber kann die EU, darüber können auch wir nicht einfach hinwegsehen."

AKP-Politiker Yeneroglu kontert

Der Vorsitzende des Menschenrechtsausschusses im türkischen Parlament wies die Kritik Koflers an den harten Maßnahmen der Regierung nach dem Putschversuch zurück. Dass es keine Rechtsstaatlichkeit gebe, entspräche "nicht den Tatsachen in der Türkei", sagte der AKP-Abgeordnete Mustafa Yeneroglu dem Deutschlandfunk. "Das weiß, glaube ich, auch die Menschenrechtsbeauftragte der Bundesregierung."

"Die Türkei befindet sich insgesamt beziehungsweise befand sich insgesamt in einer Notsituation, und dass aus der Situation zur Existenzsicherung des Rechtsstaates, der Rechtsstaat natürlich mit allen seinen Möglichkeiten zurückschlägt und die Putschisten sowie ihre Helfer und Helfershelfer aus dem Amt jagt, ist wohl selbstverständlich", sagte Yeneroglu weiter. "Ich glaube, jeder andere Staat in Europa würde mindestens genauso handeln."

Amnesty sorgt sich um Gefangene

Mehr als zwei Wochen nach dem Putschversuch in der Türkei ist nach Angaben der Menschenrechtsorganisation Amnesty International der Verbleib vieler Gefangener noch immer unklar. Viele Festgenommene seien aus Kapazitätsgründen überall im Land in Sporthallen oder Reitställen unter teils menschenunwürdigen Bedingungen untergebracht, sagte der Türkei-Experte der Organisation, Andrew Gardner, der Deutschen Presse-Agentur in Istanbul. "Die Festgenommenen müssen mit ihren Familien kommunizieren können und Zugang zu ihren Anwälten haben", forderte er. Es gebe jedoch keine offiziell zugängliche Liste, aus der hervorgehe, wo wer untergebracht werde. Vor allem der Verbleib der mutmaßlichen Rädelsführer des Putsches sei nicht bekannt. Amnesty hatte vergangene Woche in einem Bericht auf mögliche Folter in Polizeigewahrsam hingewiesen. Die türkische Regierung streitet die Vorwürfe vehement ab. Staatspräsident Recep Tayyip Erdogan hatte am Dienstag gesagt, es könne sein, dass Soldaten "während der Tumulte Tritte und Schläge abbekommen haben". Für Folter gebe es jedoch null Toleranz. Gardner hält solch ein Dementi für "nicht glaubhaft".

Die Zahl der nach dem Putschversuch suspendierten Staatsbediensteten ist nach Angaben von Ministerpräsident Binali Yildirim auf mehr als 58.000 gestiegen. Seit dem 15. Juli seien 62.010 Bedienstete "aus dem Dienst entfernt" worden, sagte Yildirim der staatlichen Nachrichtenagentur Anadolu zufolge in einem von mehreren TV-Sendern ausgestrahlten Interview. Darunter seien 58.611 Suspendierungen und 3499 dauerhafte Entlassungen.

Yildirim zufolge handelt es sich bei den meisten Entlassenen um Militärs. Zudem seien mehr als 20.000 Lehrer freigestellt worden. Um dies auszugleichen, kündigte der Ministerpräsident die Einstellung von 15.000 neuen Lehrern vor dem neuen Schuljahr an.

Griechenland könnte neuen Anstieg nicht bewältigen

Die griechische Regierung hat sich angesichts einer möglichen Aufkündigung der EU-Flüchtlingsvereinbarung durch die Türkei besorgt gezeigt. "Es liegt auf der Hand, dass bei einem möglichen Bruch der Vereinbarung seitens der Türkei sämtliche Planungen der EU komplett geändert werden müssten", sagte der Sprecher des griechischen Stabes für die Flüchtlingskrise, Giorgos Kyritsis, dem Tagesspiegel.

Zwar gebe es in der Praxis keine Anzeichen, dass die Türkei Abstand von der Flüchtlingsvereinbarung nehme, sagte Kyritsis weiter. Aber Griechenland könne einen möglichen erneuten Anstieg der Flüchtlingszahlen nicht bewältigen. Kyritsis bemängelte, dass die Unterstützung der EU-Partner bei der finanziellen Hilfe in der Flüchtlingskrise, der Entsendung von Fachleuten und der direkten Aufnahme von Migranten im Zuge der Umverteilung "unzureichend" sei.

Die griechische Regierung forderte angesichts der türkischen Drohung einen Alternativplan. Die EU müsse sich Gedanken machen für den Fall, dass die Türkei ihre Grenzen für Flüchtlinge wieder öffne, sagte Migrationsminister Yiannis Mouzalas der "Bild"-Zeitung. "Wir sind sehr beunruhigt. Wir brauchen in jedem Fall einen Plan B", sagte der Minister.

Der EU-Flüchtlingspakt sieht vor, dass illegal in Griechenland eingereiste Flüchtlinge und Migranten zurück in die Türkei geschickt werden. Für jeden zurückgeschickten syrischen Flüchtling darf seit dem 4. April ein anderer Syrer aus der Türkei legal und direkt in die EU einreisen. Bis zu 72.000 Menschen könnten auf diese Weise Aufnahme in Europa finden. (Tsp mit AFP, dpa)

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