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Wahlforscher Matthias Jung gilt als CDU-nah.

© Michael Kappeler/dpa

Wahlfoscher Matthias Jung: Merkels Demoskop

Meinungsforscher Matthias Jung stützt den Modernisierungskurs der CDU-Chefin. Manchen in der Union ist das suspekt.

Von Robert Birnbaum

Es gibt so Sachen, an denen hat er seine kleine diebische Freude. Also zum Beispiel, dass er den Aufsatz über "Die AfD als Chance für die Union" ausgerechnet bei der CSU-nahen Hanns-Seidel-Stiftung untergebracht hat. In Bayern sind sie ja an sich großzügig mit abweichenden Meinungen; aber ob Matthias Jung seine Analyse aus dem Jahr 2015 heute noch an gleicher Stelle publizieren dürfte? Im Moment steht das Vorstandsmitglied der Forschungsgruppe Wahlen (FGW) aus amtlicher CSU-Sicht jedenfalls ungefähr für alles, was Horst Seehofer und Markus Söder grässlich finden an Angela Merkels CDU. Im Parteiorgan "Bayernkurier" ist er schon zur Beschimpfung freigegeben. Eine "seltsame" Analyse der letzten Landtagswahlen habe der Wahlforscher abgeliefert, schrieb ein Redakteur. Unter gewissen CSU-Spitzenleuten hat er seither sein Etikett weg: Matthias Jung, der Demoskop der Kanzlerin.

Direkt unangenehm sind ihm solche Zuschreibungen nicht, auch wenn er sie zu plakativ findet. Jung, Jahrgang 1956, macht aus seiner Nähe zur CDU kein Hehl. "Ich reibe mich daran", sagt er. "Das ist ja schon meine politische Heimat." In der Forschungsgruppe ist er der Spezialist für die Union, so wie andere für die SPD. Eine Zeitlang war er öfter auch mal bei den Grünen.

Aus der Nähe abzuleiten, dass er Gefälligkeitsgutachten abliefere, findet er allerdings daneben: "Wer anfängt, parteiisch Empirie zu betreiben, ist zum Scheitern verurteilt." Bei der CSU zum Beispiel waren sie auch nicht immer so schlecht auf ihn zu sprechen. Vor gut zwei Jahren als Gast der CSU-Landtagsfraktion im Wildbad Kreuth fanden sie ihn vielmehr richtig klasse. Damals trug er vor, dass einem Drittel der Bürger in Bayern kein politisches Problem einfiel, das ihnen auf den Nägeln brannte. "Die Lage ist einfach günstig, das ist objektiv so", stellte Fraktionschef Thomas Kreuzer darob zufrieden fest. Meinungsforscher stehen bei Politikern eben stets besonders im Kurs, wenn sie deren Meinung bestätigen.

Früher galten Meinungsforscher als Scharlatane

Tatsächlich ist das Verhältnis zwischen Politik, Demoskopie und Öffentlichkeit seit jeher kompliziert. In den Anfangsjahren der Republik galten die Volksbefrager der etablierten Staatswissenschaft als Scharlatane und allen anderen als Zauberkundige, die vermittels ihrer Fragebögen aus dem Volk Dinge hervorlockten, von denen das Volk selbst gar nichts wusste. Elisabeth Noelle-Neumann, eine der Pionierinnen der empirischen Sozialforschung, hieß lebenslang die "Pythia vom Bodensee". Sie tat das Ihre dazu, sich mit Geheimnis zu umwittern. Aber damals waren Erkenntnisse ihrer Zunft tatsächlich Herrschaftswissen. Bis in Helmut Kohls Kanzlerzeiten landeten Umfragedaten quasi im Panzerschrank des Chefs.

Heute sind sie öffentlich bis zum Überdruss – keine Woche vergeht, in der nicht die Gunst der Wähler für Parteien und Politiker frisch vermessen und Volkes Meinung zu aktuellen Fragen erkundet wird. Die Forschungsgruppe mischt mit dem "Politbarometer" mit. Aber das wirklich Interessante, sagt Jung, ist etwas anderes. "Die analytische Musik spielt nicht in der Tagespolitik." Sie spielt in dem riesigen Bestand an Datensätzen, der sich seit 1974 in Mannheim angehäuft hat, als die FGW zum ersten Mal für das ZDF ihr Stimmungsbild ablieferte. Sie spielt da, wo die Interpreten dieser Daten sie zu Mustern und Entwicklungen kondensieren, die über den Tag hinausreichen.

Jung, seit 1987 in Mannheim dabei, hat dabei keine Scheu vor provokanten Thesen. "Langeweilervorträge kann man sich sparen", findet er. Bei Vorträgen vor Unionspublikum legt er gerne eine Folie mit einer Karikatur auf, in der die beiden letzten Kirchenbesucher einander zuflüstern, die CDU müsse sich bloß wieder auf ihre wahren Anhänger konzentrieren. Danach kommt meist die Folie mit der Altersstruktur der Wählerschaft. Und die mit den Mortalitätsraten. Von jeder Bundestagswahl zur nächsten verliert die Union eine Million Stammwähler einfach durch Tod. "Die Dregger- und Kanther-Fans in der Union sind längst ausgestorben", sagt Jung. "Das kapieren die, die sich heute Konservative nennen, aber nicht." Wenn die Parteien ihre Werte auch nur halten wollen, müssen sie also neue Anhänger dort suchen, wo sich die meisten Leute selbst sehen – in der Mitte.

Die Parteien geben selten Umfragen in Auftrag - aus Kostengründen

Die Analyse liest sich wie der theoretische Unterbau für Merkels Modernisierungspolitik. Jung erhebt kein Copyright. Anders bei der "asymmetrischen Demobilisierung". Den Begriff habe er geprägt, "wie es sich für einen Sozialwissenschaftler gehört, um vorhandene Sachverhalte und Überlegungen zu präzisieren". Die Strategie, den Konkurrenten ihre Themen wegzunehmen, wurde unter Merkels Generalsekretären Ronald Pofalla und Hermann Gröhe zum Wahlkampferfolg.

Dass die Strippen im Konrad-Adenauer-Haus von Mannheim aus gezogen würden, ist also eine naheliegende, aber, sofern man den Beteuerungen beider Seiten glauben darf, falsche Theorie. Klar kenne er den einen oder anderen, sagt Jung. "Aber mit Journalisten telefoniere ich sehr viel öfter." Dass die Parteien Umfragen in Auftrag geben, komme ohnehin kaum vor; in den Parteizentralen drehten sie "jeden Cent um". Außerdem seien alle Befunde sowieso öffentlich. Und überhaupt: "Bei der Bundes-CDU bin ich höchstens einmal im Jahr."

Das dann allerdings mit Aplomb. Zuletzt hat Jung der versammelten CDU-Führung vorgerechnet, dass nicht die AfD ihr Problem sei, sondern die Grünen. "Die neue Musik hat Baden-Württemberg gezeigt", sagt er. Selbst wenn die angeblich 190.000 Wähler, die von der CDU zur AfD gewandert sind, allesamt bei der CDU geblieben wären, wäre die Partei im Ländle trotzdem mit 30,5 Prozent untergegangen. "Die Grünen sind auf dem Weg zur neuen Volkspartei", sagt der Demoskop. "Die haben eine bürgerliche Klientel, die aber nicht so spießbürgerlich ist."

"Die Wähler sind viel mittiger als die Parteien"

Und noch etwas hat er der CDU mitgegeben: Auf die eigene Parteibuchbasis zu hören bringe nichts. "Die Wähler sind viel mittiger als die Parteien." Das gelte für alle, egal welcher Farbe. In den Parteien säßen die Mitglieder, die in den 70er Jahren massenweise eingetreten seien. "Jetzt sind die alle noch da, ohne dass viele neue dazugekommen sind."

Ja, aber ... wie war das mit Franz Josef Strauß und dem Satz, dass es keine demokratisch legitimierte Partei rechts der Union ... ? Jungs Antwort ist bei der Seidel-Stiftung nachzulesen: In der damaligen Zeit starker parteipolitischer Lagerbildung gewiss richtig – geholfen hat es schon damals nicht. Strauß hat den Triumph der "Republikaner" bloß nicht mehr erlebt. Mit der AfD, findet Jung, muss das Land leben, und die CDU könne es sogar ganz gut: Die Rechtspopulisten blockieren rot-rot-grüne Mehrheiten. Nichts aber wäre für die CDU fataler als ein Rechtsruck: "Sie würde rechts bestenfalls drei Prozent gewinnen. Aber in der Mitte verliert sie dann zehn Prozent."

In Bayern sind sie also spätestens jetzt wieder einmal ganz sicher, dass dieser Matthias Jung der Demoskop der Kanzlerin ist.

Dieser Text erschien in der "Agenda" vom 21. Juni 2016, einer Publikation des Tagesspiegels, die jeden Dienstag erscheint. Die aktuelle Ausgabe können Sie im E-Paper des Tagesspiegels lesen.

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