zum Hauptinhalt

Politik: „Militär ist ungeeignet für die zivile Ordnung“

Vertreter der Vereinten Nationen kritisieren das Verhalten der amerikanischen Soldaten: Den Menschen geht es schlechter als vorher

DER IRAK ZWISCHEN KRIEG UND FRIEDEN

Von Barbara-Maria Vahl,

New York

Den Menschen im Irak geht es schlechter als vor Kriegsbeginn. Das sagen David McLahlan, der bei den Vereinten Nationen die humanitäre Hilfe (Unocha) koordiniert, und Carol Bellamy, Chefin des Kinderhilfswerks Unicef. Beide sind gerade von mehrwöchigen Irak- Reisen nach New York zurückgekehrt. Sie machen den US-Besatzungstruppen schwere Vorwürfe, weil es den Soldaten nicht gelingt, Sicherheit zu schaffen und Plünderungen zu verhindern. Unterdessen hat die Europäische Union entschieden, weitere 37 Millionen Euro für humanitäre Hilfe im Irak zur Verfügung zu stellen. Die Mittel fließen vor allem in die Wasserversorgung.

Diese ist nach Auskunft McLahlans auch das Hauptproblem. In Bagdad sind 40 Prozent des Wassernetzes zerstört. Etwa 50 Prozent des noch fließenden Wassers gehen durch defekte Leitungen verloren. Die Systeme für die Wasseraufbereitung sind fast überall im Land außer Betrieb. Und auch die Kläranlagen sind kaputt. Täglich fließen mehrere hunderttausend Tonnen Abwasser ungereinigt in den Tigris. In den meisten Fällen sind die Wasserwerke nicht im Krieg zerstört, sondern geplündert worden. Wird ein Wasserwerk repariert, ist es am nächsten Tag schon wieder geplündert. Ohne Wächter geht nichts. Entsprechend schlecht ist die Versorgung der Bevölkerung mit Trinkwasser.

Nicht besser erging es den Elektrizitätswerken. Manche Stadtteile in Bagdad haben nur zwei Stunden Strom am Tag. Die Bürger wissen nie, wann. Und das bei Sommertemperaturen von mehr als 40 Grad. Auch die Müllabfuhr funktioniert nicht. Ebenso wenig die Straßenreinigung. „In Bagdad hängt ständig ein Geruch von Fäulnis, Verwesung in der Luft“, berichtet McLahlan.

„Unsere Lagerhäuser werden regelmäßig angegriffen. Es gibt Attacken auf Nahrungsmitteltransporte. Sie sind gefährlich“, sagt McLahlan. „Es wäre ja eigentlich die Aufgabe einer Besatzungsmacht, ein Umfeld zu schaffen, in dem humanitäre Organisationen ungefährdet arbeiten können“, fügt er hinzu.

McLahlan wirft den amerikanischen Truppen vor, die falschen Objekte zu sichern. Sie seien überall höchst sichtbar, berichtet er. Aber sie bewachten vor allem Einrichtungen, von denen die Bevölkerung zunächst nichts hat. Die Menschen trügen erkennbar keinen Gewinn an persönlicher Sicherheit davon. „Der Krieg hat die gesamte Infrastruktur zerrüttet und die alte Erfahrung wiederholt sich, dass militärisch trainiertes Personal ungeeignet ist, Aufgaben der zivilen Ordnung und Verwaltung zu übernehmen“, stellt McLahlan fest.

Auch Carol Bellamy hat wenig Gutes zu berichten. Doch zumindest die Impfkampagnen von Unicef sind Mitte Juni nach neun Monaten Unterbrechung wieder aufgenommen worden. Trotzdem sind derzeit fast alle Kinder unter einem Jahr ohne jeglichen Impfschutz. Ein wichtiges Anliegen von Unicef ist es nach Angaben von Bellamy, die Kinder wieder zurück in die Schulen zu bekommen. Unicef hat 15 Millionen Hefte verteilt, damit die Kinder Ende des Jahres ihre Prüfungen machen können und nicht das ganze Schuljahr verlieren. „Und je mehr Kinder in der Schule sind, desto weniger können beim Spielen auf Minen treten“, sagt Bellamy.

Die größte Gefahr für die Kinder kommt aber vom schmutzigen Wasser, vom Müll, vom Schmutz. Die Rate der Kinder, die an Durchfallerkrankungen sterben, steigt. Außerdem sind immer mehr Kinder mangelernährt oder gar unterernährt, berichtet Bellamy. Bereits vor dem Krieg starb eines von acht Kindern vor dem Erreichen des fünften Lebenjahres. Bellamy rechnet mit einer Steigerung dieser Rate. Und auch die Zahl der Straßenkinder nimmt stetig zu. Dies sei für Bagdad ein neues Phänomen, sagt Bellamy.

Gleichzeitig sinkt die Zahl der Kinder, die in die Schule gehen, klagt Bellamy. Schon früher besuchten 25 Prozent aller Kinder keine Schule – vor allem Mädchen. Jetzt sind es noch weniger Mädchen. Sie werden bedroht und fühlen sich nicht sicher. Im Unterricht werden neuerdings Jungen und Mädchen getrennt, hat Carol Bellamy beobachtet. Auch Lehrerinnen trauen sich oft nicht mehr zur Schule. Im ganzen Irak gibt es etwa 8000 Schulen. 5000 zu wenig, rechnet Bellamy vor. Außerdem fehlt es an allem. Es gibt nicht einmal genügend Stühle für die Kinder.

Auch die Situation der Frauen habe sich klar verschlechtert, sagt Bellamy. Sie tragen die gesamte Last des chaotischen Alltags. Und nun wird ihnen auch noch der Zugang zu Jobs erschwert. Dabei gehörten sie zu den gebildetsten und best ausgebildeten Frauen der arabischen Welt. „Innerhalb von weniger als einer Generation ist das ganze Land von einem hohen mittelöstlichen Standard in absolutes Elend zurückgefallen“, sagt McLahlan.

Carol Bellamy sagt: „Das Schlimmste, was dieser Krieg getan hat: Die alliierten Truppen haben die Türen geöffnet und offen gelassen für Plünderungen und Vandalismus, in einem Maß, das mich geradezu fassungslos macht.“ Weiter sagt sie: „Das war doch unglücklicherweise vorhersehbar, weil es woanders auch so passiert ist. Und was mich total ratlos macht, ist, dass sie das in einem offenbar so begrenzten Maße vorbedacht haben.“ Ein Eindruck, den McLahlan teilt: „Man muss wissen, wenn man ein Land besetzt, dass man dann für nahezu alles zuständig ist. Die jetzige Situation zeigt, dass es viel mehr Vorbereitung darauf hätte geben müssen, das Land zu managen.“

Barbara-Maria Vahl[New York]

Zur Startseite

showPaywall:
false
isSubscriber:
false
isPaid:
showPaywallPiano:
false