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Junge Migranten leiden oft unter der Trennung von der Familie.

© Sophia Kembowski/dpa

Minderjährige Geflüchtete: Am schlimmsten sind Unsicherheit und Verlust der Familie

Union und SPD wollen den Familiennachzug begrenzen. Doch eine Umfrage unter Betreuern zeigt: Die Trennung von ihren Angehörigen belastet vor allem junge Geflüchtete stark.

Minderjährige Flüchtlinge sind zu einem großen Teil Opfer von Gewalt geworden, bevor sie in Deutschland ankommen. Das ergab eine Umfrage unter ihren Betreuern in Deutschland - Vormünder, Sozialarbeiterinnen, auch einige Gasteltern - die der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge (BumF) in Auftrag gegeben hat, dem bundesweiten Zusammenschluss von Fachkräften der Hilfe für junge Flüchtlinge. Demnach hörten knapp 60 Prozent von ihnen "oft" oder "immer" von ihren Schützlingen, dass sie auf der Flucht oder schon zuvor im Heimatland Missbrauch oder Gewalt erlitten hätten.

Der Wert ist nach Einschätzung des Verbands besorgniserregend, weil er davon ausgeht, dass die jungen Leute ohnehin erst anfangen zu sprechen, wenn sie nach der Ankunft in Deutschland etwas Stabilität gefunden und Vertrauen gefasst haben. Befragt wurden aber auch Fachkräfte, die nur bei der ersten Aufnahme in Kontakt mit ihnen traten.

Familienzusammenführung klappt selbst innerdeutsch nicht

Eine noch stärkere Belastung allerdings scheint die Trennung von ihren Familien zu sein. 90 Prozent der befragten helfenden Profis oder Ehrenamtlichen erfuhren davon bei ihrer Arbeit mit den jungen Geflüchteten. Und noch mehr, 95 Prozent, berichten von Zukunftsängsten ihrer Schützlinge, weil ihre aufenthaltsrechtliche Situation unklar ist. Das dürfte in Zukunft ein noch größeres Problem werden: Die geplante nächste Regierungskoalition aus Union und SPD hat gerade beschlossen, den Familiennachzug auf höchstens tausend Menschen pro Monat zu begrenzen.

Aus der Umfrage geht hervor, dass die Familienzusammenführung bereits jetzt nicht läuft. Als schlecht oder sehr schlecht bewerteten schon 44 der Befragten die Lage innerhalb Deutschlands, für die zwischen den europäischen Ländern schnellt der Wert auf 84 Prozent hoch. Noch größer die Probleme, wenn die Jugendlichen auf Familien warten, die noch in der Heimat oder auf dem Fluchtweg sind: Für den Nachzug von Eltern bewerten 86 Prozent die Lage als schlecht oder sehr schlecht, wenn es um Geschwister geht, sogar 95 Prozent.

Zugleich sind Angehörige der wichtigste Grund, wenn die Jugendlichen aus dem Blickfeld der Jugendämter oder anderer Betreuung verschwinden. Aus Sicht der Fachleute machen sich die jungen Leute vor allem deshalb auf eigene Faust auf den Weg, weil sie Freunde oder Angehörige suchen, die an anderen Orten leben. Die meisten Abgänge gebe es daher ganz zu Anfang der "Inobhutnahme". Als weitere wichtige Gründe wurden die Unsicherheit über die Perspektive, bleiben zu können, genannt und die lange Dauer des eigenen Aufenthalts- oder Asylverfahrens.

Abgehauen - um Angehörige zu finden

Allerdings berichtete in der Befragung nur ein knappes Fünftel der Befragten von verschwundenen geflüchteten Jugendlichen. Vor zwei Jahren hatte das Verschwinden von mehreren tausend minderjährigen Flüchtlingen europaweit Aufsehen erregt. Nach Angaben des Bundeskriminialamts sind zwei Drittel der damals allein in Deutschland vermissten 10.000 inzwischen wieder gefunden. Schon damals äußerten Kinderrechtsexperten die Vermutung, dass sich die meisten auf den Weg zu Angehörigen und Freunden gemacht hatten.

Der Verdacht, dass sie in großer Zahl Opfer sexualisierter Gewalt oder Prostitution geworden sein könnten, wie damals die EU-Polizeibehörde Europol mutmaßte, rangiert in der BumF-Befragung auf dem letzten Platz möglicher Gründe. Noch davor rangieren Ärger im Heim, Unzufriedenheit mit der Unterbringung, kriminelle Verwicklungen oder Alkohol- und Drogenkonsum.

Die Umfrage gibt auch Aufschluss darüber, dass Personal vor Ort offenbar nicht immer über die Rechtslage aufgeklärt ist. Obwohl junge Flüchtlinge – anders als Erwachsene – einen vollen Anspruch auf medizinische Versorgung haben, erhalten sie in einigen Ländern doch die geringeren Leistungen älterer Geflüchteter. Und es gibt einen deutlichen Unterschied zwischen körperlichen und seelischen Krankheiten.

Beinbruch wird geheilt, Seelenschäden weniger

Während die allgemeine medizinische Betreuung laut Helferpersonal im Grunde gut funktioniert, fehlt ausreichende Hilfe bei psychischen Krankheiten. Der BumF vermutet, dass die Versorgungslücken in Deutschland hier junge Geflüchtete - mit ihren besonderen Problemen wie Sprachproblemen, Unsicherheit über den Aufenthaltsstatus - schlicht noch härter treffen als die Allgemeinbevölkerung.

An der Umfrage zur Lage junger Geflüchteter hatten sich 2211 Menschen beteiligt, die in Verbänden und Einrichtungen für sie tätig sind, teils als Ehrenamtliche. Berücksichtigt wurden jene 1347, die den gesamten Fragebogen beantworteten. Die Ergebnisse seien nicht repräsentativ, so der Bundesverband unbegleitete minderjährige Flüchtlinge. Sie habe aber, weil so viele Fachleute teilgenommen hätten, vermutlich "eine hohe Aussagekraft" über die Lage junger Geflüchteter in Deutschland.

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