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Politik: Mutiger als die Politik erlaubt

MEHR REFORMEN WAGEN?

Von StephanAndreas Casdorff

Nie war die Enttäuschung über den Start einer Regierung größer, nicht einmal zu Beginn der rot-grünen Koalition 1998. Selbst innerhalb der Regierung breitet sich Unmut aus. Nehmen wir das Beispiel Rente: Wegen der Erhöhung des Beitrags zur Rentenversicherung auf 19,5 Prozentpunkte – der dem Geist der Koalitionsvereinbarung und allen Wahlversprechen widerspricht – wenden sich die Grünen in erschreckender Zahl und jetzt auch einige Sozialdemokraten von der Regierung ab. Nun ist deshalb nicht gleich die Regierung gefährdet. Aber ein Gefühl der Lähmung breitet sich aus: Haben die denn gar nichts mehr im Griff?

Das Gefühl der Lähmung hat seinen Grund. Die Politik im Allgemeinen, vor allem die im Sozialen und die, die den Menschen direkt ans Portemonnaie geht, ist seit längerem wenig erfolgreich. Die Arbeitslosenzahlen gehen ins Geld, die Krankenkassenbeiträge, dann die Rentenversicherung – und jetzt auch noch die Blumen für Oma.

Was regiert, ist das Prinzip Hoffnung. Und zwar Hoffnung auf den Aufschwung. Die Milliarden, die bei der Bundesanstalt für Arbeit und bei der Arbeitslosenhilfe gespart werden sollen, zeugen davon. Für die Unternehmen wird das Investieren auch nicht gerade leichter gemacht. Weil für schnell wirkende Sparmaßnahmen nicht rasch Konsens hergestellt werden konnte, sollen eben die Einnahmen erhöht werden. Die Lust am Sparen ist dahin. Die Lust am Umsteuern, besonders im kostenintensiven Sozialbereich, kommt gar nicht erst auf.

Das ist ein Teil des Problems: Wer aufbrechen will, die Verkrustungen in der Gesellschaft und dann zu neuen Ufern, der kann nicht nur so genannten Zielgruppen nach dem Mund reden. Man muss die verschiedenen Interessen und Notwendigkeiten kennen. Aber zuletzt ist es doch nötig, diesen Gruppen, ob Rentnern, Selbstständigen, Beamten (denen nicht zuletzt) die eigene politische Absicht so zu erklären, dass sie verstanden wird. Anders gesagt: Wer glaubt, für jede Gruppe ließe sich eine eigene Politik machen, der wird sich wundern – denn ganz so dumm ist es nicht, das Publikum.

Das ist der zweite Teil des Problems: der Irrtum. Die Regierung und fatalerweise auch die Opposition haben vor der Wahl vermutet, dass die Bürger mehr Freiheit, also in diesen Zeiten eine Freiheit mit einem kalten Hauch, nicht ertragen könnten. Dabei ist das unsinnig. Es gibt bei den Deutschen nicht so etwas wie ein Gen der Veränderungsunwilligkeit. Die gegenwärtige Situation beweist das Gegenteil: Die Stimmung ist schlecht. Aber nicht, weil die Regierung zu viel macht, sondern weil sie keinen Mut aufbringt, vieles anders zu machen.

Wahr ist: Die Verschuldung, das Wachstum, die soziale Sicherheit, die Steuererhöhungen – das alles erfordert nicht nur klare Worte. Die Politiker allesamt sind nämlich Gefangene ihrer eigenen Schlagwörter geworden. Es besteht tatsächlich Handlungs- und Entscheidungsbedarf. Deshalb wird überall die Frage gestellt, warum sich dann so wenig verändert.

Klar ist: Unser aller Alltag wird umgekrempelt. Die Gesellschaft muss flexibler, unternehmender werden. Klar ist auch, dass niemand im Wandel Garantien geben kann, auf Spaß so wenig wie auf Arbeitsplätze. Anpassungsartistik ist da aber ganz sicher die falsche Antwort, Stimmungspolitik auch. Wo ist stattdessen der Mut zur Idee? Ein Beispiel: Soziale Gerechtigkeit ist auch, dem Einzelnen weniger Geld abzuverlangen, ihm bei Rente und Krankenversicherung mehr Wahlfreiheit zu ermöglichen. Sozial gerecht ist, wenn nicht nur die Hälfte der Gesellschaft, nämlich die Arbeiter und Angestellten, das Solidarsystem Sozialversicherungen tragen.

Modernität ist keine Frage der Darstellung, sondern der Substanz. Vertrauen auch. Angela Merkel hat es dieser Tage so gesagt: Wer so weitermacht, der zerstört Politik. Genauer: der zerstört das Wesen von Politik. Die benötigt Vertrauen in die Lösungsfähigkeit, weil sie nicht nur für zwei oder vier Jahre gemacht wird, sondern für die Gesellschaft von morgen. Darum geht es bei der nächsten Wahl: um ein Plebiszit über den Grad der Enttäuschung. Die nächste Wahl ist übrigens schon im Februar, in Hessen. Wie zu Beginn der ersten Amtszeit von Rot-Grün, als Roland Koch die SPD besiegte.

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