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Die Chefin der Grünen-Fraktion im EU-Parlament, Rebecca Harms.

© imago/ZUMA Press

Update

Nach Attentat auf Jo Cox: Jo Cox erhielt bereits früher Drohungen

Die ermordete Labour-Abgeordnete Jo Cox hatte die Polizei schon im März über Drohungen gegen sie informiert. Europaweit sorgt das Attentat auf die Britin derweil für erschütterte Reaktionen.

Die ermordete britischen Parlamentarierin und EU-Befürworterin Jo Cox hat der Polizei bereits vor Monaten gegen sie gerichtete Drohungen gemeldet. Nachdem sich die Politikern über "bösartige Mitteilungen" beschwert hatte, sei im März ein Mann festgenommen und verwarnt worden, teilte die britische Polizei am Freitag mit. Der damals überprüfte Mann sei jedoch ein anderer als der am Donnerstag festgenommene mutmaßliche Mörder. Die Londoner "Times" berichtete, zum Zeitpunkt der Ermordung von Cox habe es ein laufendes Verfahren gegeben, in dem zusätzliche Sicherheitsvorkehrungen für die Abgeordnete geprüft wurden.

Die Vorsitzende der Grünen-Fraktion im Europaparlament, Rebecca Harms, kritisierte derweil die Schärfe der Debatte über die britische EU-Mitgliedschaft vor dem Referendum am kommenden Donnerstag. Ungeachtet der Motive des Täters müsse man feststellen, dass die Diskussion für und gegen einen Brexit in Großbritannien "aus den Fugen" geraten sei, sagte die Grünen-Politikerin dem Tagesspiegel. Man könne nur den Worten des Witwers der Ermordeten, Brendan Cox, zustimmen, der in einer Stellungnahme betont hatte: "Hass hat keinen Glauben, keine Ethnie oder Religion, er ist giftig.“ Harms sagte: "Wenn wir das beherzigen wollen, dann müssen wir uns alle Rechenschaft ablegen, wie wir aus dieser hasserfüllten Debatte herausfinden." "Diese Mordtat kann jeden, der engagiert Politik macht, einfach nur total erschrecken."

Harms berichtete, dass sie sich noch vor einer Woche mit Grünen-Politikerinnen in Straßburg getroffen habe. Ihre Parteifreundinnen seien angesichts einer aus dem Ruder gelaufenen Brexit-Debatte den Tränen nahe gewesen, so Harms. So seien die Parteifreundinnen von der Insel ratlos gewesen, wie sie mit pro-europäischen Argumenten in der aufgeheizten Debatte überhaupt noch durchdringen sollten.

Zu den Menschen, denen der Tod von Jo Cox besonders nahegeht, gehört auch Gisela Stuart. Die in Niederbayern als Gisela Gschaider geborene Politikerin vertritt seit 1997 den Wahlbezirk Birmingham-Edgbaston. Sie ist eine Labour-Abgeordnete, so wie es Jo Cox bis zu ihrem Tod auch war. In der Frage der britischen EU-Mitgliedschaft waren sie uneins - während sich Jo Cox für die "Remain"-Kampagne einsetzte, steht Stuart auf der Seite der "Leave"-Befürworter. Stuart war am Donnerstag für die Brexit-Kampagne unterwegs, als sie nach ihrer Landung auf dem Flughafen von Glasgow von der Ermordung der Fraktionskollegin hörte. Die Kundgebung, die Stuart in der schottischen Metropole geplant hatte, wurde sofort abgesagt.

"Jo war eine Freundin und stellte für mich die Zukunft dar", sagte Stuart dem Tagesspiegel. Jo Cox habe sich durch ihr positives und mitfühlendes Wesen ausgezeichnet. "Sie zahlte den höchsten Preis für das, woran sie glaubte - eine funktionierende, offene Demokratie."

Bundestagsvizepräsidentin Claudia Roth zeigte sich im Deutschlandfunk „entsetzt“ über die Tat. Die Gesellschaft werde immer enthemmter, sagte die Grünen-Politikerin auch mit Blick auf Hasskommentare im Internet. „Bisweilen geht diese Gewalt tatsächlich in physische Gewalt über“, warnte Roth. „Es kann nicht sein, dass politische Auseinandersetzungen zu einer solchen Mobilisierung von gewalttätiger Stimmung führt.“

Bruder des Täters berichtet von psychischen Problemen

Der Täter soll bei seinem tödlichen Angriff auf die Labour-Politikerin Jo Cox "Britain first" gerufen haben, "Großbritannien zuerst", als er am Donnerstagmittag auf die Labour-Abgeordnete schoss und einstach. Das tödliche Attentat auf die EU-Befürworterin Jo Cox eine Woche vor dem Brexit-Referendum könnte deshalb ein politischer Mord gewesen sein.

Doch es kommt auch eine andere Erklärung in Betracht. Der Bruder des 52-Jährigen, den die Polizei festnahm und für den alleinigen Täter hält, berichtete dem "Daily Telegraph" von einer langen Vorgeschichte psychischer Probleme des Mannes.

"Es fällt mit schwer zu glauben, was passiert ist", sagte Scott Mair der Zeitung. "Mein Bruder ist nicht gewalttätig, und er ist nicht besonders politisch." Der Bruder habe "eine Vorgeschichte psychischer Erkrankungen". Allerdings sei er in Behandlung gewesen, sagte Mair. In britischen Medien wurden auch Nachbarn zitiert, die den mutmaßlichen Täter als Einzelgänger beschrieben, der meistens für sich geblieben sei.

Cox war am Mittag vor einer Bibliothek in Birstall in Nordengland auf offener Straße attackiert worden. Wenig später erlag sie ihren Verletzungen. Die 41-Jährige hatte für den EU-Verbleib ihres Landes geworben. Die Polizei machte zunächst keine Aussagen zu einem möglichen Motiv. Der Wahlkampf vor dem Referendum wurde eingestellt.

Pfund steigt: Devisenmarkt reagiert auf Attentat

Das Attentat zeigte am Freitag sogar Auswirkung auf die Finanzmärkte. Wieder wachsende Hoffnungen auf einen Verbleib Großbritanniens in der EU gaben dem Pfund Sterling am Freitag Auftrieb. Sein Kurs lag mit 1,4257 Dollar rund zweieinhalb US-Cent über dem Zweieinhalb-Monats-Tief vom Vortag.

"Die tragische Ermordung einer britischen Parlamentarierin gestern lässt den Devisenmarkt nicht innehalten, sondern führt dazu, dass die Folgen kühl und nüchtern eingepreist werden", schrieb Commerzbank-Analyst Ulrich Leuchtmann in einem Kommentar. Sollte die Tat politisch motiviert gewesen sein, könnte dies knapp eine Woche vor dem Referendum die Zustimmung für einen Brexit verringern. (mit Tsp, AFP/KNA)

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