zum Hauptinhalt
Zentrum des Sturms. Christian Lindner am Montag vor der Sitzung des FPD-Bundesvorstands und der Bundestagsfraktion.

© dpa

Nach dem Scheitern von Jamaika: Lindners Plan

Am Tag nach dem Platzen von Jamaika lautet die große Frage: Warum? Und die Erinnerung wird wach, dass Lindner von Anfang an nicht regieren wollte.

Von Antje Sirleschtov

Als er die Bombe platzen lässt, ist ihm auch nicht der leiseste Zweifel ins Gesicht geschrieben. Kein verzagter Ton. Ruhig steht Christian Lindner kurz vor Mitternacht im Schein der Kameras, von seinen Leuten umringt, und er liest mit klarer Stimme seine Sätze von einem kleinen Zettel ab. „Den Geist des Sondierungspapiers können und wollen wir nicht mitverantworten“, sagt er, und dass er seine Wähler nicht im Stich lassen will. Und am Schluss dann noch das eine, das alles Entscheidende: „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Ist der denn verrückt geworden? Oder – noch schlimmer – hat er diesen Moment womöglich vorbereitet, scharf kalkuliert, minutiös gesteuert; ein Akt der Zerstörung all dessen, was man in diesem Land politische Kultur nennt? Oder doch ganz anders: Ist er der einzig Mutige, der das Rückgrat hat, eine Koalition zu verhindern, die von Anfang an durch Streit und gegenseitiges Misstrauen geprägt ist und dem Land statt Fortschritten nur Ärger in den nächsten vier Jahren bringen wird?

Kaum, dass Christian Lindner sich von den Mikrofonen wegdreht, die man in dieser Nacht vor der baden-württembergischen Landesvertretung aufgebaut hat, schießen die Spekulationen, die Verdächtigungen wild durcheinander. Im Kreis der Verhandler, bei Christdemokraten, CSU und Grünen, ist die Bewertung zunächst einhellig: Twitter-Sätze von Lindners Generalsekretärin Nicola Beer werden herumgereicht. Aber sicher, da war doch schon vorher dieser Satz von „falsch regieren“; ein eindeutiger Beleg der Inszenierung. „Der Lindner hat mit uns bis zum Schluss verhandelt und wusste doch schon, dass er sich vom Acker macht“, mutmaßt einer. Und auch drinnen, wo die Kanzlerin und Cem Özdemir verdutzt mit ansehen mussten, wie der Liberale aufstand und sagte, er werde diese Sondierungsgespräche jetzt beenden – auch dort diese Vermutung, als Angela Merkel auf ihrem Handy sah, dass Lindners Sätze schon in die Welt hinausgeschickt wurden. Klar, eiskalte Berechnung.

Es ist wie ein Donnerschlag

Jamaika ist in dieser Nacht zum 20. November geplatzt. Es ist wie ein Donnerschlag. Und Christian Lindner ist der Zerstörer, der Egoshooter, der kleine Trump, dem nichts heilig zu sein scheint. Keine Regeln der Demokratie, keine historisch gewachsenen Gepflogenheiten zur Suche nach Kompromissen. Weil er, scheinbar ohne mit der Wimper zu zucken, dafür gesorgt hat, dass Deutschland in ein politisches Loch fällt, dessen Ausmaße auch am Tag danach noch niemand wirklich ermessen kann. Jamaika, dieses schwierige, aber gleichwohl interessante politische Bündnis: Er hat es zerstört, bevor es entstand, wo alle doch beteuern, es hätte am Ende noch was werden können.

Am Morgen danach die Frage: Warum? Gegen zehn Uhr fahren in der Berliner Reinhardstraße die Autos der engsten Lindner-Vertrauten vor. Wie so oft in den vergangenen Wochen trifft man sich im Kreis der Parteiführung. Man muss sich eigentlich gegenseitig nicht mehr viel erklären, die FDP ist personell dünn aufgestellt, sie ist im Kern Lindner selbst. Eine junge Partei, eine kleine Partei, nachdem die Westerwelle-FDP 2013 aus dem Bundestag flog und niemand ernsthaft gedacht hat, dass die noch mal wiederkommen.

Jetzt sind sie wieder hier, müssen aber improvisieren. Keine Büros, kaum eingearbeitete Mitarbeiter, Multifunktionen sind an der Tagesordnung. Wer an diesem Montag hier oben sitzt, im Sitzungsraum des Präsidiums im Hans-Dietrich-Genscher-Haus, war in den meisten Fällen auch in der Nacht schon dabei, hat mitverhandelt. Als die Gespräche mit Merkel, Horst Seehofer und den Grünen schon zehn Stunden liefen, rief Lindner seine Truppe zusammen. Final, wie man jetzt weiß. Von all dem, was man im Wahlkampf versprochen hat, vom Ende der Macht der Länder bei der Bildungspolitik über Digitalmilliarden, ein Einwanderungsgesetz und natürlich dem Ende des Solibeitrags: Von all dem konnte man in den Sondierungen nichts wirklich erreichen. Es wäre gegen seine „Grundüberzeugungen“ gewesen, wird Lindner später sagen.

Und dann auch noch dieses Misstrauen zwischen allen, den Unsicherheiten in Bayern, den unkalkulierbaren linken Kräften bei den Grünen. Selbst am alles entscheidenden Sonntag konnte es Jürgen Trittin nicht lassen, die FDP in einem Zeitungsinterview anzugreifen. So gehe das nicht, hat Lindner gleich am Morgen zu Merkel gesagt. Und dann abends noch einmal: Wenn man sich jetzt schon misstrauen müsse, wie solle das erst werden, wenn internationale Krisen das Land durchschütteln und die Regierung beieinander stehen muss? Nein, ein klarer Schnitt musste her. „Es ist besser, nicht zu regieren, als falsch zu regieren.“

Vielleicht wollte Christian Lindner aber auch gar nicht regieren. Schon am Abend des 24. September, die Wahlergebnisse waren gerade erst bekannt geworden, mischte er in den Stolz darüber, dass die FDP wieder im Bundestag sitzt, die Behauptung, ihm gehe es nicht ums Regieren. Nicht um jeden Preis. Sich in Opposition zu ertüchtigen, ließ er alle wissen, sei auch keine Schande.

Man hat diese Zurückhaltung allzu leicht diffamiert. FDP und nicht regieren? Haha! Das hat es doch jahrzehntelang nicht gegeben. Immer wollten die Liberalen mit an die Fleischtöpfe der Macht. Ganz gleich, ob mit der SPD oder der Union. Und jetzt auf einmal nicht mehr? Da steckt doch was dahinter.

Anti-Establishment in liberalem Gewand

Und es stimmt ja auch. Lindners neue FDP hatte sich mit einem inhaltlich sehr breiten und im Ton auch vollmundigen Programm zurückgemeldet. „Weltbeste Bildung“ steht da zum Beispiel und keine Bürokratie mehr und vieles andere, was eigentlich jeder wollen muss. Was man aber nur in der Opposition vier Jahre lang fordern kann. In einer Koalition jedoch, egal mit wem, schnurren die großen Überschriften rasch im Alltagsgeschäft zusammen. Kompromisse, das weiß jeder in der Politik, zerstören Visionen. Und es wächst die Gefahr, ziemlich schnell Erinnerungen zu wecken an die alte FDP: große Versprechen und am Ende nur Posten in der Regierung.

Christian Lindners Sehnen nach der Opposition hatte von Anfang an einen rationalen parteitaktischen Hintergrund: Er will eine FDP etablieren, die Politik abseits der verpönten „Politik der faulen Kompromisse“ verspricht. Anti-Establishment im liberalen Gewand sozusagen. Dass er jetzt plötzlich gezwungen sein sollte, mit Union und Grünen nach Jamaika zu ziehen, war im Langfristplan dieses Mannes nicht vorgesehen. Geradezu schädlich, das zermürbende Regieren. Zumal mit einer Mannschaft, die erkennbar zu schwach für Ministerpositionen, für das Regierungsgeschäft einer Weltmacht ist.

Und noch schlimmer: Schon am Ende der vergangenen Woche wurde immer deutlicher, dass sich die FDP mit keiner ihrer weltbesten Forderungen würde durchsetzen können. Nur den Abbau des Soli, den wollten Merkel und die Grünen ihr zum Schluss zugestehen, und auch das nicht in vollem Umfang. Ein Imageschaden sondergleichen, wäre Christian Lindner an diesem Montag Teil einer Jamaika-Koalition geworden und hätte nur eine Steuersenkung im Gepäck gehabt. Sieh da, hätten seine Kritiker gesagt, für Bildung wollten sie kämpfen und für geregelte Einwanderung. Und am Ende haben sie sich wieder mit Steuergeschenken für Besserverdiener kaufen lassen. Lindner, ein Abklatsch des Steuersenkers Guido Westerwelle. Und über alledem auch noch die Furcht, in Zukunft immerfort von der Union oder den Grünen übervorteilt und an die Wand gespielt zu werden. Allein diese Ahnung dürfte ihn davon überzeugt haben, dass es hohe Zeit ist, die Reißleine zu ziehen.

Unüberlegt ist die Entscheidung nicht gefallen

Die Liberalen haben ihrem Chef am Montag allenfalls in Nebensätzen die Frage gestellt, ob er sich in der Nacht wirklich gut überlegt hat, was er da tut. Nein, unüberlegt sei diese Entscheidung nicht gefallen, hat er ihnen gesagt, um Grundüberzeugungen sei es gegangen. Und „einstimmig“, ließ Lindner später wissen, habe sich die Fraktion dann auch hinter seiner Entscheidung versammelt. Achtzig Liberale, die ihr Bundestagsmandat in erster Linie dem Ein-Mann-Wahlkampf des Christian Lindner zu verdanken haben. Seit dem frühen Morgen versuchen sie denn auch, das Bild der vergangenen Nacht aus ihrer Sicht zu zeichnen, zurückzuweisen, dass man in den Gesprächen ganz kurz vor einer Einigung gestanden habe und Deutschland damit vor einer stabilen Regierung. Und die Schuld loszuwerden für einen Schritt, den man jetzt allerorten mit Egoismus und Verantwortungslosigkeit kommentiert. „Es gibt einen Punkt“, sagt der Berliner FDP-Mann Christoph Meyer, „an dem man sich eingestehen muss, dass es nicht geht.“

Den Erfahreneren in der Fraktion schwant allerdings schon, was das „Nein“ zu Jamaika auch bedeuten kann. Nämlich den Anfang eines liberalen Populismus, wenn es Neuwahlen gibt. Denn das bedeutet Lindners Satz vom „besser nicht regieren, als falsch regieren“ im Kern: eine grundsätzliche Abkehr von den „faulen“ Kompromissen in einer Koalition, die von vielen Wählern so sehr verachtet werden. Und damit die Chance, nun ungehemmt gegen das Establishment wettern zu können. In jede politische Richtung.

Lindner jedenfalls konnte man auch am Tag danach keinen Zweifel im Gesicht ansehen. Nein, leichtfertig habe er seine Entscheidung nicht getroffen. Und staatspolitische Verantwortung, die habe auch er gezeigt. Indem er eben nicht in diese Regierung geht. Und eine politische Krise, für die ausgerechnet er die Schuld tragen soll? Ach woher denn – eine solche Krise, die sieht Christian Lindner nicht.

Zur Startseite