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Nach der Gewalt gegen Mursi-Anhänger: Die geklaute Revolution

Einen Tag nach der blutigen Stürmung der Protestcamps haben in Ägypten nur wenige Mitleid mit den Muslimbrüdern – aber was sollen sie tun?

Eine einzelne Demonstrantin wagt sich zurück auf das Schlachtfeld. Sie ist von Kopf bis Fuß in schwarzes Tuch gehüllt. Ein Schleier verdeckt ihr Gesicht und die Tränen, die der beißende Rauch, der immer noch über dem Nahda-Platz vor der Kairoer Universität hängt, ihr in die Augen treibt. Sie heiße Fatima, sagt sie. Jeden Tag war sie hier, wo die Muslimbrüder ihr Protestcamp errichtet hatten. Aber nie nachts. Vielleicht ist sie deshalb noch am Leben. Vielleicht findet sie deshalb die Kraft, hier noch einmal Drohungen auszustoßen. „Ägypten wird brennen“, sagt sie. Die Islamisten würden die Räumung der Lager nicht hinnehmen.

24 Stunden, nachdem Armee und Polizei das Lager der Demonstranten gewaltsam aufgelöst, die Rednerbühne und Dutzende Zelte niedergewalzt hatten, wird langsam auch offiziell bestätigt, dass bei den Zusammenstößen mehr als 500 Menschen gestorben sind. Mehr als jemals an einem Tag seit Beginn der Revolution 2011. Fatimas trotziger Protest verhallt weitgehend ungehört.

Arbeiter beseitigen die Reste der Blockaden der Mursi-Anhänger

„Hoch lebe die Armee“, rufen stattdessen einige Frauen, die am Rande des Platzes stehen, als zwei gepanzerte Fahrzeuge, besetzt mit jungen Soldaten, vorüberrollen. Bauarbeiter beseitigen den Schutt, stumme Zeugen des „Tages der Schande“, wie eine ägyptische Zeitung getitelt hat. Sie laden Tonnen von Müll auf Lastwagen und tragen die Mauer aus Sandsäcken ab, hinter der sich die Muslimbrüder seit Absetzung Präsident Mursis verschanzt hatten. „Jetzt ist alles fertig, alles wird gut, General Sisi ist unser Held“, meint ein Arbeiter zufrieden.

Dabei ist nichts gut in Kairo. Nichts ist geblieben vom Geist der Revolution, mit dem sich die Ägypter in nur 18 Tagen 2011 von ihrem Herrscher Hosni Mubarak befreit hatten. Mohammed Gamal stand noch letztes Jahr an vorderster Front, als es galt, diesen Geist zu verteidigen. In der Mohammed-Mahmoud- Straße nahe dem Tahrir-Platz. Im Tränengas. Im Schein der Molotow-Cocktails. Gamal, 23 Jahre, Maschinenbaustudent, Statur eines Bodybuilders, warf damals Steine gegen das Militär, bis seine Augen vom Reizgas zugeschwollen waren. „Ihr habt die Revolution geklaut“, rief er den Soldaten zu, als die damalige Militärregierung unter General Hussein Tantawi den Weg nicht frei machen wollte für Wahlen. Seite an Seite kämpfte er mit den Muslimbrüdern.

Die Islamisten in Ägypten setzen jetzt auf Gewalt

Heute, da das Militär die Macht unter Armeechef Abdel Fattah al Sisi auf der Straße an sich gerissen hat und noch brutaler vorging, bleibt Gamal zu Hause. Ein bisschen Nachrichten hat er gesehen. Den Film „The Great Gatsby“ hat er heruntergeladen. Es gebe eben nicht viel zu tun, bis „alles vorbei“ sei, sagt er am Telefon. „Das Militär sollte sie alle schnappen und dahin stecken, wo sie herkamen“, sagt Gamal.

Er meint die Muslimbrüder. Er meint das Gefängnis, in dem viele ihrer Anhänger zu Zeiten Mubaraks gesessen hatten, weil das alte Regime die Islamisten fürchtete. Die Furcht des alten Regimes nährt nun die Vorurteile in einem Konflikt, den auch Gamal längst für einen Bürgerkrieg hält. Und auch die Islamisten setzen jetzt auf Gewalt. Demonstranten stürmten den Dienstsitz des Gouverneurs der Provinz Gizeh, setzten ihn in Brand. In Al Arisch und Assuit sollen Polizisten getötet worden sein. Die Muslimbrüder haben auch den letzten Rest Vertrauen in großen Teilen der Bevölkerung verspielt. Das Leid, dass ihnen das Militär nun zufügt, bringt kaum Sympathien.

Hasstiraden auf die Islamisten waren in den vergangenen Wochen in Zeitungskommentaren zu lesen und im Staatsfernsehen zu hören. Und hinterlassen ihre Spuren. Zwei Männer auf einem lokalen Markt im Stadtteil Dokki, wo am Mittwoch ebenfalls Schüsse fielen, haben ihre Rollläden immer noch unten, weil sie dem Frieden nicht trauen. Die Muslimbrüder würden die Religion missbrauchen und ihre Anhänger seien alle dumm und würden noch weniger verstehen als jeder Bowab. Hauswart bedeutet das. In Ägypten gelten sie als besonders ungebildet und arm. Die Händler sind sauer. Schon lange leidet Ägypten unter der unruhigen politischen Lage.

Die staatlichen Ämter in Kairo bleiben geschlossen

Nur ganz langsam kommt wieder Leben in die Mega-City Kairo. Das hängt nicht nur mit der Ausgangssperre zusammen, die jetzt einen Monat lang täglich von sieben bis um sechs Uhr früh gilt. Die Stimmung schwankt zwischen Schock und Bedauern, aber auch Erleichterung und Hoffnung auf einen neuen Anfang, wie schon so oft in den vergangenen zweieinhalb Jahren seit der Revolution. Die staatlichen Ämter bleiben geschlossen, ebenso wie die Banken und die Börse. Die Oper hat alle ihre Festivals und Konzerte bis auf Weiteres gestrichen. Zum Feiern und Ausgehen ist kaum jemand in Stimmung.

„Wir haben es unseren Mitarbeitern freigestellt, ob sie kommen wollen oder nicht“, sagt der Chef einer großen Architekturfirma in Kairo. Etwa 20 von 120 seien erschienen. Jeder scheint nur das Notwendigste zu erledigen. Viele Stühle in den Kaffeehäusern bleiben leer, und wer dort sitzt, verfolgt mindestens mit einem Ohr die Nachrichten aus Fernsehen oder Radio, und die berichten schon im Laufe des Morgens, dass die Muslimbrüder ihre Anhänger zu neuen Demonstrationen aufgerufen haben.

Schon für Freitag rufen die Muslimbrüder zu neuen Demonstrationen auf

Dass deren Anhänger kommen werden, steht für Mahmoud al Saka außer Frage. Doch die Revolutionäre von einst, zu denen al Saka gehört, halten sich zurück. „Die einen sind auf der Seite von al Sisi, die anderen bleiben einfach so zu Hause“, analysiert der ägyptische Aktivist die Lage. „Ich bin gegen das Militär. Ich bin gegen die Muslimbrüder“, fügt er hinzu. Beide hätten die Ägypter betrogen.

In Zamalek, wo der Nahda-Platz weit entfernt scheint, wo die Reichen, die Ausländer und der säkulare Mittelstand leben, ist diese Lesart zu komplex. Weil nicht sein kann, was nicht sein darf. Weil in Ägypten Dank der Wehrpflicht jede Familie einen Sohn im Militär hat, jeder Vater dort gedient hat, kann das Militär nicht Unrecht tun. Im Gezira-Club, umzäunt und von Polizisten gesichert, sind sich zwei Studentinnen einig: „Die Armee tut, was sie tun muss.“ Die Muslimbrüder verbreiteten nur böse Propaganda.

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