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Kein Aufgeben. In Istanbul wird weiter demonstriert.

© dpa

Nach neuer Eskalation in Istanbul: Protestierende bieten Erdogan weiter die Stirn

In der Türkei gehen die Proteste gegen Ministerpräsident Erdogan auch nach einer Nacht mit schweren Ausschreitungen weiter. Derweil wurden gegen gegen mehrere Nachrichtensender Geldstrafen verhängt.

Die türkische Protestbewegung bietet der Regierung auch nach der schweren Eskalation der Polizeigewalt auf dem Taksim-Platz in Istanbul die Stirn. Zwar räumte die Polizei nach stundenlangen Auseinandersetzungen und Tränengasangriffen den Platz in der Nacht. Dennoch hielten Gruppen der Protestierer am Mittwoch dort weiter in einem Protestcamp aus, wie Augenzeugen sagten.

Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan wollte Künstler und Vertreter der Protestbewegung noch am Mittwoch zu einem Gespräch treffen, wie die staatliche Nachrichtenagentur Anadolu berichtete.
Die türkische Rundfunkbehörde RTÜK ging derweil gegen kritische Sender vor.

Der türkische Präsident Abdullah Gül hat derweil zum Dialog aufgerufen. Demonstranten, die Gewalt ausgeübt hätten, seien aber ausgenommen, sagte Gül am Mittwoch vor Journalisten in Rize am Schwarzen Meer. Gül hatte im Zusammenhang mit den Protesten einen gemäßigteren Ton angeschlagen als Ministerpräsident Recep Tayyip Erdogan, der die Demonstranten als Gesindel bezeichnet hatte. Gül stellte sich aber an Erdogans Seite, indem er sagte, Gewalt werde nicht geduldet.

“Wir dürfen der Gewalt keine Chance geben“, sagte Gül. “Sie würde in New York nicht erlaubt, und sie würde in Berlin nicht erlaubt.“ Aus den USA und Deutschland war Kritik am massiven Vorgehen der Polizei gekommen. Bundesaußenminister Guido Westerwelle erklärte, die türkische Regierung sende mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal ins eigene Land und auch nach Europa. Die Bundesregierung erwarte, dass Erdogan im Geiste europäischer Werte deeskaliere und einen konstruktiven Austausch und friedlichen Dialog einleite.

Der Großeinsatz der Polizei gegen die Demonstranten auf dem Taksim-Platz hatte die Lage nach zehn Tagen wieder dramatisch verschärft. Der Gouverneur von Istanbul, Hüseyin Avni Mutlu, beschuldigte die Demonstranten, die Polizei angegriffen zu haben. Der Polizeieinsatz auf dem Platz werde so lange fortgesetzt wie nötig, sagte er. Der Gouverneur forderte die Bürger Istanbuls auf, sich vom Taksim-Platz fernzuhalten, bis Sicherheit hergestellt sei. Mehr als 18 Stunden lang hatte die Polizei bis in die Nacht zu Mittwoch Tränengas und Wasserwerfer eingesetzt.

Der Sender Halk TV, der anders als Nachrichtensender der türkischen Medienkonzerne durchgehend über die Demonstrationen berichtet, sei wie drei weitere Stationen zu einer Geldstrafe verurteilt worden, berichteten türkische Medien am Mittwoch. Die Rundfunkbehörde wirft den TV-Stationen vor, gegen Sendeprinzipien verstoßen zu haben und mit ihren Programmen die physische, geistige und moralische Entwicklung junger Menschen zu gefährden, wie es weiter hieß es.

International wachsen Besorgnis und Kritik wegen des Vorgehens der türkischen Polizei. Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) forderte nach Angaben von Regierungssprecher Steffen Seibert „konstruktive Gespräche durch Besonnenheit aller Seiten“. Außenminister Guido Westerwelle (FDP) rief zur Zurückhaltung auf. „Die türkische Regierung sendet mit ihrer bisherigen Reaktion auf die Proteste das falsche Signal, ins eigene Land und auch nach Europa“, sagte Westerwelle am Mittwoch in Berlin. „Wir erwarten, dass Ministerpräsident Erdogan im Geiste europäischer Werte deeskaliert und einen konstruktiven Austausch und friedlichen Dialog einleitet.“ UN-Generalsekretär Ban Ki Moon rief alle Beteiligten zu Ruhe und friedlichem Dialog auf. „Proteste sollten friedlich sein, und das Recht auf Versammlung und freie Meinungsäußerung sollte respektiert werden, denn das sind fundamentale Prinzipien eines demokratischen Staates“, sagte sein Sprecher in New York.

Die türkische Regierung habe mit der Entscheidung, den Taksim-Platz in der Nacht durch die Polizei räumen zu lassen, Bemühungen um einen friedlichen Dialog zerstört, kritisierte die Menschenrechtsorganisation Human Rights Watch am Mittwoch. „Tränengas auf Zehntausende Menschen auf dem Taksim-Platz zu feuern, wird die Krise nicht lösen.“ Im Protestlager der Demonstranten im Gezi-Park hielten am Morgen mehrere hundert Menschen nach Angriffen der Polizei die Stellung.

Mit dünnen Regenmänteln bekleidet schoben sie Müll zusammen. Was die Polizei in der Nacht nicht zerstört hat, wurde von einem Regen dahingerafft. Auch Selma Barbaros von der linken Partei der Arbeit (Emek Partisi) beteiligt sich im blauen Regencape am Großreinemachen. Mit den Fingern kratzt sie durchfeuchtete Plakate von einem Info-Tisch. „Ein Freund von mir ist letzte Nacht von einer Tränengas-Patrone am Bein verletzt worden“, sagt sie. Bis zu der Treppe, die den Park vom Taksim-Platz trennt, seien die Polizisten vorgedrungen. Dass einige Demonstranten auf den massiven Tränengas-Einsatz mit Steinen und anderen Wurfgeschossen reagierten, findet sie „normal, wenn man angegriffen wird“. (dpa/Reuters)

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