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Anti-Terror-Einsatz? Nach den tödlichen Straßenschlachten in Kiew hat der ukrainische Geheimdienst SBU eine Aktion im ganzen Land gestartet.

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Update

Nach tödlichen Straßenschlachten in Kiew: Janukowitsch entlässt Armeechef

Erst verkündeten die Sicherheitsdienste in der Ukraine einen landesweiten „Anti-Terror"-Einsatz, am Abend dann tauschte der Präsident den Armeechef aus. Unterdessen droht Kanzlerin Merkel der ukrainischen Führung mit Sanktionen.

Nach der Ankündigung eines „Anti-Terror"-Einsatzes mit umfassenden Vollmachten für die Streitkräfte hat der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch den Armeechef des Landes entlassen. In einer kurzen Erklärung teilte der Staatschef am Mittwochabend mit, er habe Wolodimir Samana durch Juri Iliin ersetzt. Eine Begründung wurde nicht angegeben.

Zuvor hatten die Sicherheitsdienste einen landesweiten „Anti-Terror"-Einsatz angekündigt. Am Abend teilte das Verteidigungsministerium mit, die Streitkräfte hätten dabei das Recht zum Schusswaffengebrauch. Zudem hätten die Soldaten das Recht, „den Verkehr von Fahrzeugen und Fußgängern einzuschränken oder zu untersagen“. Die Soldaten dürfen demnach auch Personenkontrollen vornehmen und Menschen festnehmen, die „illegale Handlungen“ vorgenommen haben. „Radikale und extremistische Gruppierungen stellen mit ihren Handlungen eine reale Gefahr für das Leben von Millionen Ukrainern dar“, teilte der Ukrainische Geheimdienst SBU am Mittwoch mit.

Bundeskanzlerin Angela Merkel hat der ukrainischen Führung mit Sanktionen gedroht, sollte sie die Gewalt in dem Land nicht „schnellstmöglich“ beenden. Nach einem Treffen mit Frankreichs Präsident François Hollande sagte Merkel am Mittwoch in Paris, beim EU-Außenministertreffen am Donnerstag werde darüber gesprochen, welche „spezifischen Sanktionen“ gegebenenfalls eingesetzt werden können. Hollande hatte sich schon zuvor klar für „rasche und gezielte“ Sanktionen gegen die ukrainische Führung ausgesprochen.

"Druck auf das Regime ausüben"

Auch der polnische Ministerpräsident Donald Tusk hatte angekündigt, sich in Gesprächen mit anderen EU-Staats- oder Regierungschefs für Finanzsanktionen gegen die Regierung in Kiew einzusetzen. Als viertes EU-Land fordert Belgien nach dem Blutbad in Kiew Sanktionen der EU gegen die politische Führung der Ukraine. „Es ist Zeit für eine neue Etappe, jene der Sanktionen“, sagte Außenminister Didier Reynders am Mittwoch im belgischen Rundfunk. „Es geht um Sanktionen, um einen Dialog in Gang zu bringen, nicht um Sanktionen der Sanktionen wegen.“ Reynders sagte, er sei sich der Unterstützung seiner Kollegen aus Deutschland und Schweden, Frank-Walter Steinmeier und Carl Bildt, sicher. „Wir müssen jetzt wirklich Druck auf das Regime ausüben“, sagte er. Steinmeier reist am Donnerstagmorgen gemeinsam mit seinem französischen Kollegen Laurent Fabius nach Kiew. Die beiden wollen demnach den polnischen Außenminister Radoslaw Sikorski begleiten, der am Mittwoch bereits auf dem Weg in die ukrainische Hauptstadt war.

Die Sanktionen dürften bestimmendes Thema einer Sondersitzung der EU-Außenminister am Donnerstag in Brüssel werden. Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton bestätigte das Treffen zur Ukraine am Mittwoch.

Aus dem EU-Parlament kommen erste Forderungen nach Sanktionen gegen Russland, das die ukrainische Führung unterstützt. “Es gibt zum Beispiel Alternativen zu der geplanten Pipeline Southstream, die Europa weiter von Gazprom abhängig machen soll“, sagt die Fraktionsvorsitzende der Grünen, Rebecca Harms. Auch der CDU-Europapolitiker Elmar Brok bringt Maßnahmen gegen Russland im Energiesektor ins Spiel.

Ex-Bundeskanzler Gerhard Schröder will unterdessen nicht im Ukraine-Konflikt vermitteln. Eine Einzelperson könne dies nicht übernehmen, sagte er “Spiegel Online“. Nur die UN seien dazu in der Lage. Die EU könne dagegen unmöglich in dem Konflikt vermitteln, da sie “den Fehler gemacht“ habe, die Opposition einseitig zu unterstützen. Sie sei “nun selbst Partei“. Sanktionen gegen das Land lehnte Schröder ab.

UN fordern unabhängige Untersuchung der Vorgänge

UN-Menschenrechtskommissarin Navi Pillay fordert eine unabhängige Untersuchung der Vorgänge in der Ukraine. Geprüft werden soll, ob womöglich exzessive Gewalt angewendet wurde. Pillay rief zudem alle Beteiligten im ukrainischen Machtkampf zur maximalen Zurückhaltung auf.

Die Ukraine, wo im Zusammenhang mit der Räumung des von der Opposition besetzten Unabhängigkeitsplatzes in Kiew mindestens 25 Menschen getötet wurden, wird am Nachmittag auch Thema bei einem Treffen von US-Außenminister John Kerry mit Frankreichs Außenminister Laurent Fabius in Paris. Kerry hält sich zu einem Besuch in der französischen Hauptstadt auf, wo er mit Palästinenserpräsident Mahmud Abbas am Abend über den Nahost-Friedensprozess sprechen will.

Die USA und europäische Regierungen hatten den ukrainischen Präsidenten Viktor Janukowitsch aufgefordert, auf gewaltsame Aktionen der Sicherheitskräfte zu verzichten und den Dialog mit der Opposition zu suchen.

Räumung des Unabhängigkeitsplatzes forderte mindestens 25 Menschenleben

Am frühen Morgen wurde das Ausmaß der Gewalt, das in der Nacht in der Hauptstadt Kiew gewütet hat, noch deutlicher. Die Zahl der Toten bei den schweren Unruhen in der ukrainischen Hauptstadt Kiew ist nach jüngsten offiziellen Angaben auf 25 gestiegen. 241 weitere Menschen wurden nach Angaben des Gesundheitsministeriums vom Mittwoch in Krankenhäuser gebracht, unter ihnen 79 Polizisten und fünf Journalisten. Am Mittwochnachmittag blockierten ukrainische Demonstranten nach Angaben des polnischen Grenzschutzes den Grenzübergang Korczowa.

Sicherheitskräfte hatten in der Nacht auf Mittwoch den von Demonstranten besetzten Unabhängigkeitsplatz gestürmt, heftige Kämpfe folgten. In den frühen Morgenstunden brannten immer noch an vielen Stellen des Platzes Feuer lichterloh. Die Polizei hatte am Dienstagabend kurz nach Ablauf eines Ultimatums mit der Räumung des Unabhängigkeitsplatzes in Kiew begonnen, daraufhin kam es zu den bisher blutigsten Auseinandersetzungen zwischen Demonstranten und Sicherheitskräften seit Beginn der Proteste in der Ukraine vor drei Monaten.

Blutigster Tag seit 20 Jahren?

Es dürfte sogar der bislang blutigste Tag für die ehemalige Sowjetrepublik seit Beginn ihrer Unabhängigkeit vor mehr als 20 Jahren gewesen sein. Und ein Ende der Gewalt ist nicht in Sicht: Ein nächtliches Krisentreffen von Präsident Viktor Janukowitsch mit Oppositionsführern blieb ohne Ergebnis.

Die meisten Opfer starben durch Schüsse

Die Demonstranten hatten bereits am Dienstagabend auf dem Maidan - dem Unabhängigkeitsplatz - Feuerteppiche gelegt, um ein Vorrücken der Polizei zu verhindern. Gepanzerte Fahrzeuge wurden von Demonstranten mit Brandsätzen beworfen. Wasserwerfer wurden mit Feuerwerkskörpern beschossen, die Polizei schlug mit Schlagstöcken auf die Demonstranten ein. In den frühen Morgenstunden hatten die Sicherheitskräfte knapp die Hälfte des Platzes eingenommen.

Sowohl Behördenvertreter als auch Oppositionelle berichteten, dass die meisten Todesopfer an Schusswunden starben. Hunderte Menschen wurden verletzt, dutzende von ihnen schwer. Aus dem Gewerkschaftshaus am Maidan, das von der Opposition als Hauptquartier genutzt wurde, stiegen Flammen auf, mehrere Etagen brannten lichterloh. "Die Regierung muss sofort die Truppen zurückziehen und diesem blutigen Konflikt ein Ende setzen, weil Menschen sterben. Das habe ich Janukowitsch gesagt", sagte Oppositionsführer Vitali Klitschko nach einem Gespräch mit dem Präsidenten. Bei dem Treffen habe man sich nicht auf eine friedliche Lösung verständigen können. Klitschko sagte, er habe das Gespräch beendet, nachdem Janukowitsch eine bedingungslose Räumung des Maidan gefordert habe. “Wie können wir Gespräche führen, wenn Blut vergossen wird“, fügte Klitschko hinzu.

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Nach dem Eskalieren der Situation in Kiew hat der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch der Opposition den Kampf angesagt. Die Oppositionsführer hätten die „Grenzen überschritten“, indem sie im Machtkampf auf den Druck der Straße setzten und „die Leute zu den Waffen rufen“, sagte Janukowitsch in der Nacht zum Mittwoch in einer Rede an die Nation. Die „Schuldigen“ für die Gewalt würden vor Gericht gestellt werden. "Die Oppositionsführer haben das Prinzip der Demokratie verletzt, wonach man die Macht durch Wahlen erhält und nicht durch die Straße“, sagte Janukowitsch. Er warf der prowestlichen Opposition einen verfassungswidrigen Versuch der Machtübernahme vor.

Unruhen weiten sich auf andere Städte aus

Die Unruhen weiteten sich auf mehrere Städte im Westen des Landes aus. In Stanislau und Lemberg besetzten Demonstranten am späten Dienstagabend nach Polizeiangaben mehrere Verwaltungsgebäude der Regionalregierung. In Ternopil wurde das Polizeihauptquartier in Brand gesetzt, wie Medien berichteten. Nach Angaben eines Oppositionspolitikers besetzten Demonstranten zudem das Gebäude der Staatsanwaltschaft.

Das Innenministerium in Kiew hatte kurz vor Beginn des abendlichen Einsatzes auf dem Maidan die noch zu Tausenden versammelten Regierungsgegner aufgefordert, den Platz zu räumen. Es folge eine „Anti-Terror-Operation“, hieß es. Die Oppositionsführung rief Frauen und Kinder in ihren Reihen auf, den Platz zu verlassen.

Die Demonstranten haben ihre Barrikaden am Maidan verstärkt.
Die Demonstranten haben ihre Barrikaden am Maidan verstärkt.

© dpa

Nach Wochen angespannter Ruhe war es bereits im Tagesverlauf zu schweren Straßenschlachten gekommen. Am Nachmittag begann die aufgebrachte Menge, Pflastersteine aus der Straße vor der Nationalbank der Ukraine zu reißen, um damit auf der anderen Straßenseite, in der Bankowa, dem Amtssitz des verhassten Präsidenten Viktor Janukowitsch, Barrikaden zu errichten. In einer kleinen Seitenstraße, zwischen der Institutska-Straße und der Gruschewski-Straße, dem Sitz des Parlaments, brannte es lichterloh. In der Nähe befinden sich zahlreiche Büros von Abgeordneten und der Regierung, schwarze Rauchwolken verdeckten den Blick auf die Zerstörungen.

Die Kiewer Metro wurde komplett geschlossen. Als Grund gab die Stadtverwaltung an, man habe Informationen, dass ein Terroranschlag geplant sei. Außerdem kündigte die Regierung an, den Autoverkehr in die Hauptstadt ab Mitternacht zu begrenzen, „um eine Ausweitung der Gewalt zu verhindern“.

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Die EU-Außenbeauftragte Catherine Ashton zeigte sich angesichts der Gewalt „tief besorgt“ und forderte beide Seiten auf, die Krise rasch zu beenden. Außenminister Frank-Walter Steinmeier (SPD) rief die ukrainischen Behörden dazu auf, für ein Ende des blutigen Konflikts zu sorgen. „Es hat Gewalt und Gegengewalt gegeben. Aber es obliegt den Sicherheitskräften, jetzt dafür zu sorgen, dass eine Deeskalation stattfindet und dass die Gewaltanwendung nicht noch ausgeweitet wird“, sagte er. Auch die USA forderten von Janukowitsch, den Konflikt umgehend zu entschärfen. „Wir verurteilen weiterhin die Gewalt auf der Straße und den übermäßigen Einsatz von Gewalt auf beiden Seiten“, sagte Regierungssprecher Jay Carney . Janukowitsch will sich am Mittwoch mit führenden Vertretern der Regierungsgegner treffen.

Die Geduld der Ukrainer scheint zu Ende zu sein

Die Geduld der Ukrainer scheint zu Ende zu sein. Wochenlang hatten Tausende friedlich im Stadtzentrum Kiews protestiert. Sie haben auf Ergebnisse gehofft, als die EU und die USA ihre Unterhändler schickten, um mit der Staatsführung und der Opposition zu verhandeln. Doch Janukowitsch will die Krise aussitzen. Der Westen scheint das zu akzeptieren. Dort hofft man auf einen Wandel nach den nächsten Präsidentschaftswahlen im März 2015. Doch so lange wollen die Menschen in der Ukraine nicht mehr warten.

Am späten Dienstagabend hatten dann Regierungsgegner mehrere Verwaltungsgebäude im Westen des Landes besetzt. In Kiew hatten sich schon am Vormittag 10 000 Protestierer im Regierungsviertel versammelt, als das Parlament seine Arbeit aufnehmen wollte. Sie wollten ihrer Forderung Nachdruck verleihen, dass das Parlament endlich die Debatte zur Wiedereinführung der Verfassung aus dem Jahr 2004 beginnt. Die Änderung würde dem Präsidenten Machtbefugnisse nehmen und die Ukraine wieder zu einer parlamentarischen Demokratie machen.

Die Fraktion der Vaterlandspartei der inhaftierten früheren Ministerpräsidentin Julia Timoschenko verließ am Nachmittag das Parlament und ging geschlossen zu den Demonstranten auf den Maidan. „Damit wollen wir ein Zeichen setzen“, sagte Alexander Turtschinow, Parlamentsabgeordneter und stellvertretender Parteivorsitzender. „Wir haben der Regierung und dem Präsidenten über Monate Gespräche angeboten. Jetzt stellen wir uns uneingeschränkt auf die Seite der Demonstranten.“ (mit AFP/dpa/rtr)

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