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Politik: Nicht nur allein, sondern einsam

Individualität, Mobilität, Flexibilität sind Tugenden der Moderne – aber Gemeinsamkeit und Gemeinschaft leiden darunter

Von Michael Schmidt

Berlin - 14,57 Millionen Singlehaushalte haben die Statistiker des Bundesamts in Deutschland gezählt. Mit anderen Worten: Mehr als jeder dritte Haushalt ist ein Ein-Personen-Haushalt. Nun ist das Alleinleben im Verständnis dieser Zahlenjongleure in erster Linie ein sozialstatistischer Sachverhalt – und zudem von vielen Singles ein bewusst gewählter Lebensstil. Einsamkeit dagegen ist ein psychischer Zustand. Ein unerwünschter. Und als solcher kein Phänomen, das auf den Osten der Republik beschränkt wäre.

Vereinzelung ist ein Problem, das zumeist erst wahrgenommen wird, wenn Schlagzeilen unsere Aufmerksamkeit erregen, sagt ein ehrenamtlicher Mitarbeiter der Telefonseelsorge in Berlin. Erst wenn uns zum Beispiel die Nachricht eines Toten erreicht, der tage-, ja womöglich wochenlang in seiner Wohnung lag – oder die Nachricht einer Mutter, die offenbar unbemerkt neunmal schwanger war und offenbar unbemerkt ihre neun Babys tötete, erst dann fragten wir uns: Wie kommt es zu solchen Taten – und wie zu solch konsequentem Wegschauen?

Zum Teil seien es Tendenzen, die die Gesellschaft in toto veränderten, sagt Karin Schüler von der Arbeiterwohlfahrt, sehr allmählich zwar, aber nachdrücklich wirke der Trend zur Individualisierung, der Wunsch nach Mobilität, die Forderung nach Flexibilität. Familie und Beruf haben sich dramatisch verändert – und dabei bleiben über die Jahre gesehen „Gemeinsamkeit und Gemeinschaft auf der Strecke“, sagt Schüler. Die Familie in ihrer traditionellen Daseinsweise löse sich auf. Gemeinsame Essenszeiten etwa seien längst nicht mehr die Regel. Drohende Arbeitslosigkeit, Perspektiv- und Orientierungslosigkeit führten zum Rückzug. Ehen gingen in die Brüche. Freunde blieben fern. Mancher, der keinen Ansprechpartner habe und sich mit seinen Problemen nur noch als störend empfinde, flüchte sich in die Sucht, konsumiere Alkohol, Medikamente, Drogen. „Viele fühlen sich als Mensch nicht mehr wahr-, nicht mehr Ernst genommen“, sagt Schüler. „Sie werden auf eine Adresse reduziert, sind Kunde, Verbraucher, Antragsteller, aber nicht mehr Subjekt ihres Lebens.“

Vereine, Jugend- und Kirchengruppen fangen das kaum auf – sie haben ihre einstige Bindungskraft verloren. Was hilft? Ein Ausweg scheint vielen: Aufmerksamkeit provozieren, um jeden Preis. Sei es durch Gewalt, sei es durch ihr Äußeres. „Das Problem ist der Rückzug aus der sozialen Verantwortung“, sagt Schüler. „Zu viele schauen weg, weil sie mit sich selbst beschäftigt sind.“ Weil die Erfordernisse des heutigen Berufslebens ihren Tribut forderten. Wehr- und Esatzdienst, Studium, Berufswechsel machen vielleicht einen Umzug in eine fremde Stadt nötig. Im Alter sind es der Tod von Freunden und Verwandten und die Kinder, die sich nicht kümmern, die zur Vereinsamung führen können. Wie ließe sich dem begegnen? Sich die eigene Situation bewusst machen und gegensteuern, rät Gabriele Wichert vom Kinderschutzbund. Studien über Alleinerziehende zum Beispiel könnten da Hoffnung machen, sagt Wichert: Weil Alleinerziehende häufig ihre Situation stärker reflektierten als andere, würden sie der drohenden Vereinsamung bewusst ein eng geknüpftes Netz an Beziehungen entgegenstellen und sich auch intensiver um die Kinder kümmern.

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