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Politik: „Niemand soll von Deutschland überrascht sein“

EU-Industriekommissar Verheugen über die Feinstaub-Problematik, die Wirtschaft in Europa und den Stabilitätspakt

Den Feinstaub in deutschen Städten verursachen zu einem Großteil Dieselautos. Die EURichtlinie zur Minderung der Belastung ist seit 1999 bekannt. Hat die deutsche Autoindustrie geschlafen?

Die deutsche Automobilindustrie muss sich Fragen gefallen lassen – gerade was die Ausstattung mit Dieselrußfiltern anbelangt. Als die Franzosen vor einigen Jahren mit einer relativ einfachen technologischen Lösung auf den Markt kamen, war das den Deutschen nicht anspruchsvoll genug. Also kündigten sie eine Lösung à la Toll collect an: das weltweit beste, komplizierteste, technisch anspruchsvollste System. Diese Entwicklung ist nicht gelungen. Nun müssen die deutschen Hersteller ebenfalls auf den Filter zurückgreifen und sind dadurch in einen Wettbewerbsnachteil geraten.

Welchen Anforderungen müssen europäische Autos bis 2010 genügen?

Bis spätestens 2010 werden wir bei der Reduzierung der Schadstoffemissionen noch einen größeren Schritt nach vorne machen. Die europäischen Autos werden dadurch ihren Vorsprung auf dem Weltmarkt ausbauen können. Noch in diesem Jahr werde ich Vorschläge für eine schärfere EU-Abgasnorm vorlegen.

Sind die Deutschen nicht generell schlecht bei der Umsetzung von EU-Richtlinien in nationales Recht, etwa im Vergleich zu den angeblich europaskeptischen Briten?

Es ist bereits besser geworden. Deutschland liegt heute im Mittelfeld. Ein Grund für die Probleme ist das komplizierte föderale Gesetzgebungsverfahren durch Bund und Länder. Ein anderes sind mitunter deutsche Regierungskoalitionen. Da wird dann eine europäische Richtlinie als Gelegenheit zur Realisierung eigener politischer Ziele benutzt. Fest steht: Die besten Europäer bei der Umsetzung von EU-Recht sind die Deutschen nicht, auch wenn manche das immer noch glauben.

Warum hat sich die EU von dem Ziel verabschiedet, bis 2010 zur wettbewerbsfähigsten Region der Welt zu werden?

Das wollen wir schon, das Ziel bleibt bestehen. Aber es wäre großmäulig, zu wiederholen, dass wir das bis 2010 erreichen. Es ist mir offen gesagt egal, ob wir die Amerikaner 2012 oder 2014 überholen. Entscheidend ist, dass wir jetzt den Trend umdrehen. Ökonomisch geht es darum, dass wir das Maß an Produktivität, Wachstum und Beschäftigung erreichen, das wir brauchen, um unsere großen gesellschaftlichen und globalen Ziele in Europa zu erreichen. 2010 werden wir noch nicht die dynamischste und wettbewerbsstärkste Region in der Welt sein, das steht nun fest.

Wie soll der Trend umgedreht werden?

Ich habe ein realisierbares Konzept vorgeschlagen, das sich auf die wirklich wichtigen Dinge konzentriert: Die Rahmenbedingungen für die Wirtschaft müssen verbessert werden. Und Europa braucht ein politisches System, das die Mitgliedsländer in die volle Mitverantwortung bringt, die Wachstums- und Beschäftigungsziele zu erreichen. Die Umsetzung wird meine Aufgabe in den nächsten fünf Jahren sein.

Werden mit der umstrittenen EU-Dienstleistungsrichtlinie Arbeitsplätze geschaffen, wie die EU-Kommission sagt – oder zerstört, wie Gewerkschaften behaupten?

Wir brauchen eine Dienstleistungsrichtlinie und werden sie auch kriegen. Die Mitgliedsländer teilen die Auffassung der Kommission, dass die Hemmnisse bei grenzüberschreitenden Dienstleistungen abgebaut werden müssen. Da liegt ein enormes Wachstumspotenzial. Die europaweite Öffnung des Dienstleistungsmarktes darf aber nicht dazu führen, dass es zu einem Wettbewerb bei Löhnen und Preisen nach unten kommt. Diese Sorge hält die Kommission für berechtigt, und deshalb wird der Entwurf so überarbeitet, dass alle Probleme ausgeräumt werden.

Bis jetzt sieht die Richtlinie das so genannte Herkunftslandprinzip vor. Danach gelten die eventuell laxeren Vorschriften des Herkunftslandes der Dienstleister. Ist dieses Prinzip jetzt in Frage gestellt?

In Bezug auf Sicherheitsstandards und Qualitätsnormen werden die Regeln des Landes gelten, in dem die Dienstleistung erbracht wird.

Kanzler Schröder hat sich neben Frankreichs Präsident Chirac besonders für eine Abmilderung stark gemacht und vehement eine Aufweichung des Stabilitätspaktes vertreten. Kämpft Deutschland offensiver für seine Interessen in Europa als früher?

Ich würde nicht von einer Aufweichung des Stabilitätspaktes sprechen. Eher davon, dass wirtschaftliche Grundregeln in Zukunft mehr beachtet werden. Aber niemand soll überrascht sein, dass Deutschland seine nationalen Interessen robuster vertritt als in der Vergangenheit. Andere tun das seit eh und je. Für Deutschland haben sich zwei Dinge verändert: Erstens die Zahlungsfähigkeit, zweitens ist die deutsche Wirtschaft durch verschiedene Faktoren unter Druck geraten. Und bei einer Arbeitslosenzahl von über fünf Millionen wird keine Regierung es riskieren, Initiativen zuzustimmen, die möglicherweise einen negativen Effekt auf Wachstum und Beschäftigung im eigenen Land haben.

Bei den EU-Finanzen stehen zähe Verhandlungen über die Finanzperiode 2007 bis 2013 an. Passt der Briten-Rabatt, den Margaret Thatcher einst für ihr Land verhandelt hat, noch in diese Zeit?

Außer den Briten glaubt niemand in Europa, dass der Rabatt in dieser Form noch gerechtfertigt ist. Ich wäre schon froh, wenn wir einen Einstieg in den Ausstieg zu Stande bringen.

Das Gespräch führten Moritz Döbler, Christoph von Marschall, Albrecht Meier.

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