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Mütter die verzweifelt auf ihre Kinder warten. In Chibok im Staat Borno sind vor gut einem Monat mehr als 200 Schülerinnen von der Boko Haram verschleppt worden. Von ihnen fehlt bislang jede Spur.

© AFP

Update

Nigeria: "Ich werde nicht ruhen, bis die Mädchen gefunden sind"

Präsident Goodluck Jonathan verteidigt seine Regierung. Die Gewalt im Norden Nigerias vertreibt Hunderttausende Menschen aus ihren Häusern. Die internationale Gemeinschaft ist alarmiert. Die Islamisten setzen ihr blutiges Treiben fort.

Zum Ende des Weltwirtschaftsforums in der Hauptstadt Abuja sagte der nigerianische Präsident Goodluck Jonathan, er werde "nicht mehr ruhen, bis die Mädchen gefunden sind". Bei der Abschlusspressekonferenz des Weltwirtschaftsforums wollte kaum ein Journalist wissen, wie viele ausländische Firmen nun dringend in dem westafrikanischen Ölland investieren wollen. Die Fragen drehten sich vor allem um die Entführung von rund 300 Schülerinnen am 14. April durch die islamistische Sekte Boko Haram. Die Eltern der Kinder bat Jonathan dennoch um "Geduld". Es sei nicht wahr, dass die Regierung und die Armee langsam reagiert hätten. Gleich nach dem "Vorfall haben Armee und Luftwaffe die Gegend durchkämmt", sagte er bei der Abschlusspressekonferenz des Weltwirtschaftsforums. Der nigerianische "Guardian" zitiert den Präsidenten mit einer weiteren Kampfansage an Boko Haram. Er werde weder mit der "Terrororganisation" noch mit ihren "Unterstützern" verhandeln. Jonathan erklärte der islamistischen Sekte stattdessen den "totalen Krieg". Die Mädchen, versicherte er, würden "eher früher als später mit Hilfe der internationalen Gemeinschaft und Fernerkundungstechnologien aufgespürt" und ihre Entführer würden den "langen Arm des Rechts zu spüren bekommen", sagte er weiter.

Eine Viertelmillion Menschen ist auf der Flucht

Rund ein Jahr nach der Verhängung des Ausnahmezustandes in drei nordnigerianischen Bundesstaaten sind dort nach UN-Angaben 250 000 Menschen auf der Flucht vor Gewalt. Rund 61 000 weitere hätten sich in die Nachbarländer Kamerun, Tschad und Niger begeben, teilte das UN-Flüchtlingskommissariat (UNHCR) am Freitag unter Berufung auf nigerianische Behördenangaben mit. Die Binnenflüchtlinge und die Vertriebenen berichteten demnach von extremer Gewalt und Brutalität.
Im muslimisch geprägten Nordosten Nigerias kämpft die islamistische Sekte Boko Haram für einen Gottesstaat entsprechend der Lehren des Koran aus dem 6. Jahrhundert. Die Scharia, also islamisches Recht, ist in zwölf nigerianischen Bundesstaaten bereits 2001 eingeführt worden. Die Armee des Landes hatte im vergangenen Mai eine Offensive gegen die Gruppe in den Bundesstaaten Yobe, Borno und Adamawa gestartet. Unter Kontrolle haben die Truppen die Region aber nicht gebracht. In Chibok im Staat Borno waren vor gut einem Monat rund 300 Schülerinnen von der Boko Haram verschleppt worden. 53 konnten sich selbst befreien. Von den anderen fehlt bislang jede Spur.

Amnesty International: Das Militär wusste rechtzeitig Bescheid

Die Menschenrechtsorganisation Amnesty International wirft der nigerianischen Armee vor, vier Stunden vor der Entführung bereits gewusst zu haben, dass ein Angriff bevorstand. Die Organisation beruft sich auf eine Vielzahl „glaubwürdiger Zeugenaussagen“. Demnach habe die Armee die Hinweise ignoriert, weil sie wohl befürchtet habe, sich mit besser bewaffneten Boko-Haram-Kämpfern auseinander setzen zu müssen. In der Stadt Chibok waren nach Informationen von Amnesty lediglich 17 Sicherheitskräfte stationiert, als die Kämpfer gegen Mitternacht den Schlafraum der Mädchen anzündeten und die panischen Kinder auf Lastwagen trieb. Das Verteidigungsministerium in Abuja wies die Vorwürfe zurück, sie seien eine Ansammlung von Gerüchten.

Die Islamisten von Boko Haram setzten derweil ihre Angriffe fort. Mutmaßliche Mitglieder der Extremisten sprengten im Norden eine Brücke und töteten mindestens 30 Menschen. Der Anschlag ereignete sich in dem Dorf Gamboru Ngala an der Grenze zu Kamerun, wie die Zeitung „Punch“ am Freitag berichtete. Dort hatte Boko Haram erst vor wenigen Tagen über 300 Menschen ermordet und elf Mädchen entführt.

Chefanklägerin des Strafgerichtshof verurteilt Boko Haram

Die Mitglieder des UN-Sicherheitsrats verurteilten die neuerliche Attacke und auch die Entführung der mehr als 200 Schülerinnen. Das Vorgehen von Boko Haram bezeichneten sie in einer Mitteilung vom späten Freitagabend als Gefahr für die Stabilität in West- und Zentralafrika. Die Chefanklägerin des Internationalen Strafgerichtshofs in Den Haag, Fatou Bensouda, sagte, die Entführung der Schulmädchen falle möglicherweise in die Zuständigkeit ihres Gerichts. Das beunruhigende Phänomen, dass Frauen in Konflikten zum Ziel würden, müsse unterbunden werden. Alles nur erdenklich Mögliche müsse getan werden, um die Verantwortlichen für derartige Gräueltaten vor Gericht zu bringen, entweder in Nigeria oder in Den Haag.

Bundespräsident Gauck ist "zutiefst schockiert"

Auch Deutschland hat die brutalen Gewalttaten der islamistischen Sekte Boko Haram im Norden Nigerias scharf verurteilt. Bundespräsident Joachim Gauck schrieb am Freitag an Nigerias Präsidenten Goodluck Jonathan, ihn hätten der jüngste Angriff mit vielen Toten und die andauernde Geiselnahme von Schülerinnen „zutiefst schockiert“. Für die Bundesregierung drückte der Sprecher von Bundeskanzlerin Angela Merkel, Steffen Seibert, Entsetzen aus. „Das sind barbarische Akte jenseits jeglicher Moralvorstellung“, sagte er. Seibert versprach deutsche Hilfe. „Wo immer Deutschland im Kampf gegen den fundamentalistischen Terror und für die Wahrung der Menschenrechte hilfreich sein kann, wird es das auch tun“, sagte er, ohne jedoch konkret zu werden. Die Gräueltaten der Terroristen haben weltweit Abscheu hervorgerufen. Die USA und Großbritannien haben mehrere Experten nach Nigeria entsandt, um die dortigen Behörden bei der Suche nach den noch immer mehr als 240 Mädchen zu unterstützen, die am 14. April im nordöstlichen Bundesstaat Borno verschleppt wurden.

Entsetzen über die Entführung und Anschläge äußerten auch Religionsvertreter in Deutschland. Der Vorsitzende der katholischen Deutschen Bischofskonferenz, Reinhard Marx, erklärte in Bonn, die Attacken und die Verschleppung der Schülerinnen erfüllten ihn mit Trauer und Empörung. Der Vorsitzende des Zentralrats der Muslime in Deutschland, Aiman Mazyek, forderte, die Bundesrepublik solle die Suche nach den entführten Schülerinnen unterstützen. Auch die Strukturen und Hintergründe von Boko Haram müssten aufgeklärt werden. „Die Regierung in Nigeria scheint damit hoffnungslos überfordert“, sagte Mazyek dem epd. Zudem rief er dazu auf, stärker zwischen der Terrorgruppe und dem Islam zu unterscheiden. „Die Boko-Haram-Extremisten berufen sich auf den Islam, aber in Wirklichkeit arbeiten sie wie eine Mafia-Organisation“, die mit Terror Geld mache, sagte er. Boko Haram versteht sich als Teil des Terrornetzwerks Al Qaida. Der Name bedeutet „Westliche Bildung ist Sünde“.

Wie CNN die Bewegung #BringBackOurGirls amerikanisiert

Seit die Protestbewegung mehr und mehr vom US-Nachrichtensender CNN und der amerikanischen Öffentlichkeit übernommen worden ist, äußern sich immer mehr nigerianische Aktivisten kritisch. Im Gegensatz zu vielen Amerikanern, die eine Petition für einen US-Militäreinsatz gezeichnet haben, wollen die nigerianischen Frauen, die den Protest auf der Straße beherrschen, ein Mindestmaß an Sicherheit für ihren Alltag erreichen. Am Freitag veröffentlichte das „Wall Street Journal“ eine Recherche, nach der eine amerikanische Dokumentarfilmerin, Ramaa Mosley, CNN einen Film über Mädchenbildung („Girl Rising“) verkauft hat, den der Sender an diesem Wochenende zeigen will. Darin hat sie sich als Erfinderin des Slogans „#BringBackOurGirls“ präsentiert. Der Erfinder ist jedoch der nigerianische Anwalt Ibrahim Musa Abdullahi. Der Anwalt wiederum griff einen Ruf der ehemaligen Bildungsministerin Oly Ezekwesili auf, die bei einer der ersten Demonstrationen in Unterstützung für die Eltern der Mädchen gerufen hatte: "Bringt unsere Töchter zurück." Er habe die Töchter durch Mädchen ersetzt, weil er selbst keine Kinder habe, sagte Ibrahim Musa Abdullahi dem "Wall Street Journal". Mosley hat sich inzwischen via Twitter entschuldigt. (mit dpa/epd)

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