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Politik: Noch einmalmit Gefühl

KAMPF UM DIE MITTE

Von Stephan-Andreas Casdorff

Die letzte Woche vor der Wahl bricht an, und eines wird immer klarer: Es gewinnt, wer den Nerv der Gesellschaft besser trifft. Denn die Mehrheit der Bürger sucht sich ihre Partei auch danach aus, ob sie kulturell und geistig zu ihnen passt. Lange sah es so aus, als befinde sich die Union wieder im Einklang mit dem Lebensgefühl der breiten Mitte. Doch belegt die Wende in den Umfragen, dass es eine Vorrangstellung hier nicht mehr auf Dauer gibt.

Beide Parteien werben um die gesellschaftliche Mitte – also um diejenigen zwischen 30 und 50, um Menschen, die mitten im Leben stehen: die Dienstleister, die Produzenten des Bruttosozialprodukts, die Steuerzahler, die Familiengründer. Diese Gruppe ist politisch geprägt von den siebziger und achtziger Jahren, von „Willy wählen“, von Mutlangen und Depeche Mode, von Helmut Kohl und der DDR – und sei es mit Widerwillen. Hier hat Rot-Grün die meisten Anhänger.

Es entspricht ihrem Lebensgefühl, dass allein Erziehende oder die Homoehe als gleichwertig akzeptiert werden. Das tut die Union nicht. Auch wird SPD und Grünen eher zugetraut, bei der Vereinbarkeit von Familie und Beruf zu helfen. Da fängt die Union gerade erst an, weil auch Bürgertöchter nicht mehr nur am Herd stehen wollen. Bildung als soziale Frage ist auch so ein Thema, das diejenigen anspricht, die wie Gerhard Schröder zu den Aufsteigern durch Wissen gehören.

Der Begriff der „Neuen Mitte“ war insofern irreführend. Es ging weder der SPD noch der Union allein um Start-upper, junge Ökonomisten, kühle Broker. Im Grunde ist der Begriff der Mitte unverändert. Mitte ist nicht Hype, sondern Ausdruck des Alltags, der in die Politik wirkt. Mitte ist, wo Menschen die Politik denen überlassen wollen, die wissen, wo ihre Sorgen Zuhause sind. Und das ist der Alltag in der Mitte der Gesellschaft: Eltern ärgern sich über Unterrichtsausfall und zu große Klassen mit zu wenigen Schülern, die Deutsch sprechen. Patienten, Ärzte und Pfleger sind der Ohnmacht nahe angesichts eines Gesundheitssystems, das niemand mehr so recht versteht. Viele empfinden Angst in der U-Bahn und Ärger vor einem geschlossenen Schwimmbad.

Die Bedürfnisse dieser Mitte sind im klassischen Sinne konservativ, mindestens wertkonservativ. Wer Essen geht, will nicht an Gifte denken. Wer Steuern zahlt, will gerechte Steuergesetze, und er will sie verstehen. Wer für die Rente zahlt, will später auch was davon haben. Wer viel leistet, will in Frieden leben. Milieus, die aus Tradition immer eine Partei wählen, lösen sich auf. Vernunft, Sicherheit, Stabilität, soziale Geborgenheit sind Bedürfnisse, die erfüllt werden sollen.

Die SPD hat sich vielen Erwartungen der „middle class“ geöffnet, sozial und kulturell. Man denke nur an Otto Schily. Die Union mit Edmund Stoiber an der Spitze hat es in ihrem Wahlkampf auch getan, hat vorsichtig Konsens mit einer Mehrheit herzustellen versucht. Aber das Lebensgefühl dieser Mitte zu treffen, fällt ihr schwerer. Deshalb muss Stoiber mehr als Schröder kämpfen. Und deshalb stellt sich für ihn jetzt die Frage, ob er nicht mehr über die Alltagsverträglichkeit und -wirksamkeit von Politik hätten reden müssen. Mehr also davon, was er in der Lebenswelt der Mehrheit, also der Mitte, konkret verändern will. Es ist noch eine Woche Zeit. Ob das reicht?

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