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Das ehemalige Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau.

© dpa

NS-Verbrechen: Helfer beim Massenmord in Auschwitz

Wer ist der frühere Wachmann in Auschwitz, der nun in Baden-Württemberg verhaftet wurde? Und warum interessierte sich die deutsche Justiz so lange nicht für ihn? Eine Rekonstruktion.

Der Mann, der im April 1983 von Chicago nach Deutschland flog, tat das nicht freiwillig. Hans L. sollte aus den USA ausgewiesen werden, weil er bei der Einwanderung 1956 einen entscheidenden Teil seiner Vergangenheit verschwiegen hatte: seine Tätigkeit als SS-Wachmann im nationalsozialistischen Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau von 1941 bis 1945. Seiner Ausweisung kam der pensionierte Fabrikarbeiter zuvor, indem er bereits eine Woche vor dem geplanten Termin in die Bundesrepublik reiste – von der Öffentlichkeit unbemerkt. Die deutsche Justiz kannte zwar seinen Fall, verzichtete aber auf Ermittlungen. Drei Jahrzehnte lang lebte er unbehelligt im baden-württembergischen Aalen. Am Montag wurde der mittlerweile 93-Jährige verhaftet, Ermittler des Landeskriminalamtes durchsuchten sein Haus. Die Staatsanwaltschaft Stuttgart will gegen Hans L. Anklage wegen Beihilfe zum Mord erheben.

In Deutschland wird noch einmal ein Auschwitz-Prozess geführt

Damit wird es wahrscheinlich, dass in Deutschland noch einmal ein Auschwitz-Prozess geführt wird – genau 50 Jahre nach dem Beginn des großen Frankfurter Auschwitz-Verfahrens. Doch wer ist dieser Mann, gegen den nun doch ermittelt wird, obwohl sich die deutsche Justiz so lange nicht für ihn interessierte? Aus Dokumenten, die dem Tagesspiegel vorliegen, lässt sich seine Geschichte zumindest in Teilen rekonstruieren.

Als Kind heißt er nicht Hans, sondern Antanas L. Er wird im November 1919 in einer litauischen Kleinstadt geboren, seine Familie gehört der deutschen Minderheit an. Nach einer Ausbildung zum Hilfsbäcker arbeitet er in der väterlichen Bäckerei mit. Im Sommer 1940 marschiert die Rote Armee in Litauen ein. Gemeinsam mit anderen Angehörigen der deutschen Minderheit flieht Hans L. ein dreiviertel Jahr später nach Westen, ins Deutsche Reich. Dort lebt er in einem Flüchtlingslager, bis er im Oktober 1941 zur Waffen-SS geht. Inzwischen nennt er sich Hans L., im Februar 1943 wird er deutscher Staatsbürger. Ob er sich – wie viele andere sogenannte „Volksdeutsche“ – freiwillig zur Waffen-SS gemeldet hat, ist bisher unklar.

Er behauptet, Koch in Auschwitz gewesen zu sein, nicht Wachmann

Der 21-jährige SS-Schütze Hans L. wird sofort nach Auschwitz-Birkenau abkommandiert und in einer Kompanie des SS-Totenkopf-Sturmbanns zum Wachmann ausgebildet. Dort bleibt er bis Anfang 1945. Dass er in dem Vernichtungslager war, bestreitet er nicht. Aber er sei Koch gewesen, nicht Wachmann. Nach seiner Grundausbildung habe er gleich in der SS-Küche von Auschwitz-Birkenau gearbeitet, sagt er während einer Vernehmung in den USA. Dass wenige hundert Meter von der Küche entfernt in den Gaskammern Tag für Tag Juden ermordet wurden, will er nicht gewusst haben. Als ihn die US-Ermittler ein zweites Mal vernehmen, behauptet er, sich aus gesundheitlichen Gründen an nichts zu erinnern.

Tatsächlich wird Hans L. den vorliegenden Dokumenten zufolge erst ab 1943 in der SS-Küche eingesetzt, und auch dort beaufsichtigt er als Wachmann die Häftlinge. Die Ermittler gehen offenbar davon aus, dass er in seiner gesamten Zeit in Auschwitz auch Wach- und Bereitschaftsdienste geleistet hat. Weil das Wachpersonal in Auschwitz kaum ausreichte, mussten abwechselnd alle Wachleute Dienst an der Rampe leisten, wo die Züge mit deportierten Juden aus ganz Europa eintrafen. Sie standen nicht nur auf den Wachtürmen, sie umstellten auch die Rampe, um die Menschen an der Flucht zu hindern, holten sie aus den Zügen und begleiteten diejenigen, die von den SS-Offizieren an der Rampe „selektiert“ wurden, in die Gaskammern.

Die deutsche Justiz ermittelt erst seit kurzem gegen Wachleute in Vernichtungslagern

Als am 19. Mai 1943 ein Zug mit mehr als 1000 Juden aus Berlin an der Rampe von Auschwitz-Birkenau ankommt, hatte Hans L.s Kompanie nachweislich Bereitschaftsdienst. Mehr als 800 Menschen werden unmittelbar nach der Ankunft in den Gaskammern ermordet.

Die deutsche Justiz hat jahrzehntelang nicht gegen Wachleute in Vernichtungslagern ermittelt, sondern nur gegen NS-Verbrecher, denen eine ganz konkrete Tat nachgewiesen werden konnte. Der Prozess gegen John Demjanjuk, einen früheren Wachmann in Sobibor, leitete eine späte Wende in der juristischen Aufarbeitung von NS-Verbrechen ein (auch wenn das Urteil des Münchner Landgerichts nicht rechtskräftig wurde, weil Demjanjuk vor der Revision starb). Seitdem suchen die Ermittler gezielt auch nach Wachpersonal. Allein in Deutschland leben noch 50 ehemalige Auschwitz-Wachmänner, so das erste Ergebnis dieser Recherchen. Auch im bayerischen Weiden läuft ein Ermittlungsverfahren gegen einen Wachmann, der heute in den USA lebt.

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