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 Der US-Geheimdienst National Security Agency (NSA) hat Telefonate vom Wirtschafts, Finanz- und Landwirtschaftsministerium abgehört.

© Nicolas Armer/dpa

NSA-Skandal: Neue Enthüllungen beschäftigen Untersuchungsausschuss

Am Mittwochabend veröffentlichte die Enthüllungsplattform Wikileaks eine Liste, die belegt, dass die NSA auch die deutsche Bundesregierung abhört. Welche Konsequenzen hat das?

Von Anna Sauerbrey

Es ist das, was sowohl die USA als auch die deutsche Bundesregierung unbedingt verhindern wollten: Dass "Selektoren" an die Öffentlichkeit kommen, also Suchbegriffe, mit denen die Geheimdienste die elektronischen Datenströme überwachen. Selektoren sind nichts anderes als die Aufklärungsziele der Geheimdienste. Es handelt sich zum Beispiel um Telefonnummern, Email- oder IP-Adressen von konkreten Personen. Sie gehören deshalb zu den am besten gehüteten Geheimnissen der Dienste - oder besser: Zu den Geheimnissen, die die Dienste am besten hüten sollte. Denn jetzt sind konkrete Suchbegriffe der NSA dank Wikileaks auf dem Markt .

Wer genau in der Bundesregierung wird abgehört?

Bei den Selektoren handelt es sich um Telefonanschlüsse im Wirtschaftsministerium, im Finanzministerium und im Landwirtschaftsministerium. Außerdem ist eine Abteilung bei der Europäischen Zentralbank betroffen. Im Finanzministerium steht etwa der direkte Bonner Anschluss des früheren Finanzministers Oskar Lafontaine auf der Liste. Unter dieser Nummer ist heute das Vorzimmer von Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble zu erreichen. Auch die Anschlüsse mehrerer Staatssekretäre sind dabei. Aus dem Wirtschaftsministerium sind die Anschlüsse der Leitung des Ministerbüros und die Leitung der Zentralabteilung enthalten, auch der Bonner Anschluss des ehemaligen Wirtschaftsminister Werner Müller (1998-2002). Aus dem Landwirtschaftsministerium steht die Durchwahl des Ministerbüros auf der Liste sowie die Telefone mehrerer leitender Beamter. Die Liste stammt aus der Zeit zwischen 2010 und 2012, ist aber möglicherweise noch aktuell.

Die Dokumente enthalten auch das Protokoll eines Gesprächs, das Bundeskanzlerin Angela Merkel während einer Vietnamreise im Oktober 2011 mit einem oder einer Vertrauten führte, möglicherweise Merkels Büroleiterin Beate Baumann. Aus der Gesprächsnotiz geht nicht eindeutig hervor, dass es sich um ein abgehörtes Telefongespräch handelt. Merkel sagte in dem Telefongespräch, sie sei unsicher, welche Maßnahme die beste in der Griechenlandkrise sei. Sie fürchte, selbst durch einen weiteren Schuldenerlass werde Griechenland nicht in der Lage sein, seine Probleme zu lösen. Am Donnerstag veröffentlichte Wikileaks außerdem das Protokoll eines abgehörten Gesprächs des Leiters der Abeilung für Europapolitik im Kanzleramt, Nikolaus Meyer-Landrut, ebenfalls aus dem Jahr 2011, ebenfalls zur Griechenlandkrise. Abgefangen hatte dieses Gespräch der britische Geheimdienst GHCQ, der die Informationen an die Amerikaner weiterreichte.

Ist das überraschend?

Dass die USA zahlreiche - auch befreundete - Regierungschefs überwachen, ist bekannt. Bereits im Oktober 2013 veröffentlichte der Spiegel ein Dokument, dass belegt, dass Angela Merkels Parteivorsitzenden-Handy seit 2002 abgehört wird. Am 23. und 29. Juni dieses Jahres hatte Wikileaks Dokumente veröffentlicht, die belegen, dass die französischen Präsidenten Jacques Chirac, Nicolas Sarkozy und Francois Hollande abgehört wurden, ebenso wie mehrere französische Ministerien. Das Abhören des Handy der brasilianischen Präsidentin Dilma Roussef hatte 2013 für nachhaltige Verstimmung zwischen den beiden Ländern gesorgt.

Woher stammen die Informationen?

Eine Quelle wird nicht genannt. Die "Süddeutsche Zeitung" geht davon aus, dass es sich nicht um Edward Snowden, sondern einen anderen NSA-Insider handelt.

Handelt es sich um Wirtschaftsspionage?

Geht es nach den Mitarbeitern des Bundeskanzleramts, die der NSA-Untersuchungausschuss bisher gehört hat: Nein. Die Bundesregierung besteht auf einer sehr engen Definition von Wirtschaftsspionage. Günter Heiß, der Leiter der für die Geheimdienstaufsicht zuständigen Abteilung des Kanzleramts, wiederholte bei seiner Vernehmung am Donnerstag viele Male: Wirtschaftsspionage sei lediglich "die Ausspähung geistigen Eigentums zu Zwecken der Erlangung von Wettbewerbsvorteilen" - also nur, wenn Spione zum Beispiel Pläne für neue Steuerungssysteme in selbstfahrenden Autos entwenden, um diese an heimische Unternehmen weiterzugeben. Heiß sagte, auf Wirtschaftsspionage in diesem Sinne habe er keine Hinweise, bis heute.

Ob diese Definition Sinn macht, ist allerdings fraglich. Betroffen sind nach den nun veröffentlichen Dokumenten eben jene Ministerien, die die gesamte Politik in der Finanzkrise und der Griechenlandkrise steuern, die Energiepolitik und auch die Verhandlungen über das US-europäische Freihandelsabkommen TTIP. Die frühzeitige Information darüber, ob Angela Merkel einen Schuldenschnitt in Griechenland befürworten wird, ist auf dem Finanzmarkt bares Geld wert. Dasselbe gilt ebenso für Entscheidungen über eine mögliche Öffnung des europäischen Marktes für bestimmte Produkte im Rahmen eines Freihandelsabkommens. Die Wikileaks-Dokumente zur Abhörpraxis in Frankreich belegen, dass die Amerikaner auch dort ein großes Interesse an den französischen Positionen zu globalen Wirtschaftsabkommen haben. Die eigene Verhandlungsposition durch die Kenntnis der gegnerischen zu stärken, kann durchaus in geldwerten Vorteilen für die eigene Wirtschaft münden.

Darüber hinaus kann man allerdings auch fragen, ob tatsächlich nur Wirtschaftsspionage relevant ist. Es gehört zur Abwehrstrategie der Bundesregierung, diesen Vorwurf ebenso hervorzuheben, wie gleichzeitig zu betonen, er treffe nicht zu. Das liegt zum einen daran, dass das Bundeskanzleramt sich so auf den Standpunkt stellen kann, nichts gewusst zu haben - während der Ausschuss inzwischen gut nachgewiesen hat, dass es Hinweise auf ein doppeltes Spiel der NSA auch in der Zusammenarbeit mit dem Bundesnachrichtendienst gegeben hat. Das liegt zum anderen daran, dass man offenbar die offene Konfrontation mit dem amerikanischen Partner und juristische Schritte scheut.

Wie reagierte die Bundesregierung?

Zurückhaltend. Dem NSA-Ausschuss teilte das Kanzleramt mit, die für die Geheimdienste Verantwortlichen würden im Laufe des Tages zu einer Krisensitzung zusammenkommen. Der Geheimdienstbeauftragte Klaus-Dieter Fritsche werde im Laufe des Tages das Parlament informieren. Kanzlerin Angela Merkel lud nach Informationen von Spiegel Online außerdem den amerikanischen Botschafter John Emerson zu einem Gespräch mit Kanzleramtschef Peter Altmaier in das Kanzleramt ein. Um eine formelle Einbestellung handele es sich aber nicht. Wirtschaftsminister Sigmar Gabriel (SPD) sagte, der NSA-Untersuchungsausschuss müsse die Vorwürfe klären, und sprach von "absurdem Theater". Auch Bundesinnenminister Thomas de Maizière forderte Aufklärung.

Wie reagierte der NSA-Untersuchungsausschuss?

Der SPD-Obmann im NSA-Untersuchungsausschuss, Christian Flisek, forderte Angela Merkel auf, sich um die Sache zu kümmern. "Es ist nötig, dass sich die Bundeskanzlerin aus der Deckung begibt", sagte er. Martina Renner, Obfrau der Linken, sah die Annahmen des Ausschusses bestätigt. Der Ausschuss hörte am Donnerstag ansonsten wie geplant den Leiter der für die Geheimdienste zuständigen Abteilung VI des Bundeskanzleramts, Günter Heiß. Thema war neben der aktuellen Entwicklung auch die Frage, ob die Bundesregierung die deutsche Öffentlichkeit im Wahlkampf 2013 darüber getäuscht hat, dass sie ein No-Spy-Abkommen mit den USA abschließen werde. Geleakten Emails zwischen hochrangigen deutschen und amerikanischen Beamten zufolge hatten die USA ein solches Abkommen nie in Betracht gezogen, während der damalige Kanzleramtschef Roland Pofalla im Sommer 2013 verkündete: "Die USA haben uns ein No-Spy-Abkommen angeboten." Pofalla selbst sollte am frühen Abend gehört werden. Günter Heiß blieb bei der bisherigen Darstellung der Bundesregierung. Demnach hätten hochrangige Vertreter der US-Geheimdienste einer deutschen Geheimdienstdelegation im August 2013 ein solches Abkommen angeboten und auch den Begriff verwendet.

Wie reagierte der Generalbundesanwalt?

Ein Sprecher von Generalbundesanwalt Harald Range teilte am Donnerstag mit, der GBA gehe "den Informationen nach". Ein Ermittlungsverfahren wurde zunächst nicht eingeleitet. Erst kürzlich hatte Range das Ermittlungsverfahren wegen des Abhörens von Angela Merkels Handy eingestellt, diese Verfahren werde nicht wieder aufgenommen, sagte der Sprecher. Die Einstellung war allerdings nur erfolgt, weil sich die Vorwürfe "mit den Mitteln der Strafprozessordnung" nicht "gerichtsfest" hatten erhärten lassen.

Und was passiert mit der Selektorenliste des BND?

Eine andere, aber vergleichbare Liste mit Selektoren hielt die Bundesregierung für so geheim, dass sie sie nicht mal den Obleuten des NSA-Untersuchungsausschuss vorlegen wollte. Gestern nun beschlossen die Koalitionsfraktionen offiziell eine "Vertrauensperson". Der pensionierte Bundesverwaltungsrichter Kurt Graulich soll in der Sommerpause die Selektorenliste prüfen und dem Ausschuss im September einen Bericht vorlegen.

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