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Das haben wir jetzt verstanden.

© Kira Hofmann/dpa-Zentralbild/dpa

Die Deutschen in der Coronakrise: Nun macht euch mal locker!

Ein wochenlanger Lockdown strapaziert Verstand und Gefühl. Der Verstand sagt, die Maßnahmen müssten sein, das Gefühl lehnt sich dagegen auf. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Menschen sind widersprüchlich. Sie wollen, dass die Zahl derer, die sich täglich mit Covid-19 infizieren, kleiner wird, weniger Menschen an Corona sterben, die Gesundheitssysteme nicht überlastet sind, das medizinische Personal aus dem Dauerzustand der Erschöpfung kommt. Einerseits. Andererseits wollen sie ihr altes Leben zurück, die Kinder zur Kita und in die Schulen schicken, Verwandte und Freunde treffen, zum Friseur und ins Museum gehen. Sie sehen ein, dass der Lockdown notwendig ist, um die ersten Ziele zu erreichen.

Das aber verringert kaum ihre Wut darüber, dass das Grundrechtseinschränkungen und Freiheitsentzüge zur Folge hat. Die Einsicht in die Notwendigkeit der Maßnahmen und die Kritik an den Folgen dieser Maßnahmen ergänzen sich.

Psychische und physische Kollateralschäden

Ein Beispiel: Wir brauchen eine Langfriststrategie im Kampf gegen das Virus, so tönt es aus vielen Ecken, das Fahren auf Sicht zermürbe, die Perspektivlosigkeit sei unerträglich. Doch werden die Menschen befragt, ob in einer Lage, in der hochinfektiöse Mutanten auftauchen, Langfriststrategien überhaupt möglich sind, antworten laut Allensbach lediglich 28 Prozent mit Ja, aber 59 Prozent mit Nein. Lässt sich das Unmögliche wollen? Philosophen und Kognitionswissenschaftler unterscheiden zwischen Absicht und Wunsch. Eine Mehrheit der Deutschen will offenbar keine Langfriststrategien, sondern wünscht sie sich nur.  

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Solches Wünschen wird allerdings stärker, je länger der Ausnahmezustand dauert. Geduld, Resilienz und Verzichtsvermögen schwinden, in den Vordergrund treten die psychischen und physischen Kollateralschäden. Hinzu kommt: Erfolge der Maßnahmen lassen sich schwer in Geschichten übersetzen - ein Nichtinfizierter ist eine anonyme Größe, die sich der Darstellung entzieht.  

Die Erzählungen verzweifelnder Familien dagegen, von Kino- und Restaurantbesitzern, Konzertveranstaltern und Museumsbetreibern, Friseuren und Künstlern sind nicht nur real, sondern auch medientauglich. Deren Bilder und Schicksale fangen an, die Wahrnehmung der Krise zu dominieren. So entsteht fast automatisch der Eindruck, die Nebenwirkungen der Therapie seien schädlicher als die Medizin.

Eine niveaulose Verästelung der Diskussion

Kritik muss sein – und rückhaltlos vorgebracht werden. Das Maß des Blamablen, von der Corona-Warn-App über die Impfstoff-Beschaffung bis zu willkürlich anmutenden Lockerungsbeschlüssen, wurde oft überschritten. Ausgedehnte Friseur-Öffnungsdebatten taugen allenfalls als Symbol für eine niveaulose Verästelung der Diskussion. Aber Kritik sollte sich davor hüten, als Fundamentalopposition ausgelegt werden zu können. Empörung muss der Sache dienen und nicht auf ein Ende der Anti-Corona-Maßnahmen zielen.  

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Leider tendiert die Auseinandersetzung ins Überschäumende. Insgeheim wollten die Lockdowner einen autoritären Staat errichten, heißt es aus Kreisen der Anti-Lockdowner, die gern im Gestus von Freiheitskämpfern posieren. Eine humane und praktikable Alternative haben sie freilich nicht anzubieten. Perfide Unterstellungen ersetzen die eigene Ratlosigkeit. Umgekehrt ist niemandem damit gedient, jeden Kritiker der Anti-Corona-Maßnahmen pauschal mit dem Vorwurf zu überziehen, aus zynischem Egoismus heraus den massenhaften Tod anderer Menschen in Kauf zu nehmen.

Vernunft und Widervernunft treten in einen Dauerkonflikt

Wer den Blick über Deutschland hinaus weitet, erkennt, dass in allen von Corona betroffenen Staaten um die richtige Strategie zur Eindämmung der Pandemie gerungen wird. Ob linke oder rechte Regierungen, autoritäre oder demokratisch legitimierte: Lange Zeit hat das Virus sie alle ausgetrickst. Ein auf andere Gegebenheiten übertragbares Patentrezept hat (noch) keiner entwickelt. Auch dieser Befund könnte zu einer Zivilisierung der Debatte beitragen.  

Ein Lockdown, der sich über viele Wochen erstreckt, strapaziert Verstand und Gefühl. Der Verstand sagt, die Maßnahmen müssten sein, das Gefühl lehnt sich gegen diese Einsicht auf. Vernunft und Widervernunft treten in einen Dauerkonflikt, der gesellschaftlich immer unerbittlicher ausgetragen wird. Dabei gibt es kaum jemanden, der die antagonistischen Impulse nicht in sich selbst spürt.

Menschen sind widersprüchlich. Das zu akzeptieren, könnte zumindest helfen, die An- und Verspannungen in der Krise etwas zu lockern.

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