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Politik: Nutzen im Sinn

Von Moritz Schuller

Der Literaturwissenschaftler Ernst Robert Curtius lehnte 1920 einen Ruf an die Technische Universität Aachen ab, weil er nicht von dem Professor für Heizung und Lüftung mit „Herr Kollege“ angeredet werden wollte. Heute wird die TU von Eon gesponsert, einem Energieunternehmen, das großes Interesse an angewandter Heizungswissenschaft hat, und vermutlich freuen sich die Aachener Germanisten, wenn sie auf den Gängen überhaupt noch gegrüßt werden.

Das „Jahr der Geisteswissenschaften“, von Bildungsministerin Annette Schavan am Freitag offiziell eingeläutet, wird vermutlich nachzeichnen, wie sich die Zeiten seit Curtius geändert haben: Dass die einstigen Herrscher über den gesellschaftlichen Diskurs nun, in Zeiten der zunehmenden Ökonomisierung des Wissenschaftsbetriebs, im Wettbewerb mit den Naturwissenschaften immer häufiger leer ausgehen; dass die gesellschaftlichen Sinnstifter quasi nebenbei und möglichst geräuschlos den Löwenanteil der Studenten in Deutschland beschäftigen müssen; dass sie billig und auch brillant sein sollen. Und dass der Hochmut einer gewissen Larmoyanz gewichen ist – weil die Frage „Wozu Geisteswissenschaften?“ einfach nicht verschwinden will.

Vielleicht wird in diesem Jahr aber auch ein Gutachten des Wissenschaftsrats zur Sprache kommen, in dem es schon vor einiger Zeit hieß, dass von einer Krise der Geisteswissenschaften „hinsichtlich ihrer wissenschaftlichen Qualität und Leistungsfähigkeit“ nicht die Rede sein könne. Vielmehr lobte das Gremium die Mitwirkung der Geisteswissenschaften an „der politischen Selbstvergewisserung Deutschlands und an der ökonomischen Wertschöpfung“. Vermutlich ist es, wie es immer war: Wer einem begabten Germanisten Zeit zur Verfügung stellt, denn das ist bei den Geisteswissenschaften die entscheidende Währung, wird auch gute Literaturwissenschaft zurückbekommen. Dass die Gleichung nicht immer funktioniert, hat auch Gründe: Wenn ein Zehntel des wissenschaftlichen Personals ein Viertel aller Studenten unterrichten muss, kann keine Geisteswissenschaft funktionieren.

Möglicherweise ist dieser Tage das kommerzielle (und damit auch das öffentliche) Interesse an einem sparsamen Dieselmotor größer als an Literaturwissenschaft. Von einem Germanisten wird man den nie geliefert bekommen, der macht andere Dinge. Die Krise der Geisteswissenschaften ist nicht so sehr eine Krise mangelnder Wertschöpfung, sondern eine mangelnder Wertschätzung: Der Geist ist in der Krise, nicht die Wissenschaften. Das Intellektuelle steht nicht hoch im Kurs. Die Rolle der Geisteswissenschaften als Demokratisierungswissenschaften, die sie lange und erfolgreich in Deutschland ausgeübt haben, wird nicht mehr nachgefragt. Die Antworten auf Fragen des Tages werden derzeit lieber von den Naturwissenschaften angefordert.

Natürlich sollten auch die Geisteswissenschaften ihr Angebot an den Markt anpassen – an den intellektuellen Markt. Ihr Ziel muss es sein, intellektuell so sexy zu sein, so spannend und anregend, dass die Frage nach ihrer Legitimität keiner mehr zu stellen wagt. Der Versuch jedoch, sich nützlich machen zu wollen, wie die Naturwissenschaften stets auf konkrete Forschungserfolge zu verweisen, führt zwangsläufig zur intellektuellen Verengung. Der Geisteswissenschaftler verkäme zu einem aufgeklärten Dilettanten. Der wahre gesellschaftliche Nutzen der Geisteswissenschaften, das große Ganze im Blick zu behalten, der lange Atem, der nötig ist, alles zusammenzudenken, wäre endgültig dahin. Der Nutzen der Geisteswissenschaften, betont der Wissenschaftsrat, erweist sich schließlich „nur selten unmittelbar“. Das bedeutet nicht, dass er nicht existiert. Diesen fundamentalen Unterschied ließ Schavan außer Acht, wenn sie das Studium der Afrikanistik auch als hilfreich für geschäftliche Kontakte darstellt. Denn den Geisteswissenschaftler, der seine Zeit damit verbringt, Geschäftsleuten Nachhilfe zu geben, den braucht keiner mehr zu grüßen.

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