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Politik: Ob jede Stimme zählt

Von Rüdiger Schaper

Lange mussten die amerikanischen Frauen streiten, länger noch als die Europäerinnen, bis ihnen im Jahr 1920 schließlich das Wahlrecht eingeräumt wurde. An die Suffragetten von damals fühlen sich heute viele Amerikaner erinnert, die im Ausland leben und am 2. November ihren Präsidenten mitwählen wollen. Sie berichten von absurden bürokratischen Hürden, technischen Pannen und Desinformation.

Eine Amerikanerin in Paris erhielt aus Florida, wo sie registriert ist, zwei unterschiedliche Auslandswahlscheine zugeschickt. Es sind absentee ballots mit dem Namen Al Gore oder dem Aufdruck „Muster“ im Umlauf. Die USBotschaft in Berlin verwies Landsleute, die sich nach Wahlunterlagen erkundigten, aufs Internet. Doch die entsprechenden Homepages waren häufig gesperrt – aus Sicherheitsgründen, wie es hieß. Wenn nun die Americans abroad doch noch in den Genuss ihres Wahlrechts kommen, ist dies vor allem privaten Organisationen zu verdanken, die sich durch einen kafkaesken amerikanischen Wahldschungel kämpfen.

Jede Stimme zählt. Das weiß man seit dem Wahldebakel vor vier Jahren. Ob am Ende tatsächlich jede Stimme gezählt wird (und nachgezählt werden kann), steht auf einem anderen Blatt – oder Touchscreen. Man mag die Probleme bei der Erfassung amerikanischer Auslandswähler als Einzelfälle abtun. Beim letzten Wahlgang waren es fünfhundert und ein paar zerquetschte Einzelfälle, die in Florida den Ausschlag gaben.

Gewiss: Noch nie war der Ansturm auf die absentee ballots so groß wie bei dieser Wahl. Die Behörden in den USA scheinen überfordert. Offensichtlich kommt diese Überforderung den Parteigängern des amtierenden Präsidenten nicht ungelegen. Ist es Schlamperei, Naivität oder grenzt es an Betrug, dass man sich nicht rechtzeitig auf die zu erwartende hohe Wahlbeteiligung eingestellt hat, in einer Situation, da die Vereinigten Staaten eine beispiellose politisch-kulturelle Spaltung erfahren?

Das amerikanische Wahlrecht ist kompliziert und antiquiert, aber es hat sich bewährt und, alles in allem, zweihundert Jahre Stabilität garantiert. Die Hälfte der Wahlberechtigten geht in dem riesigen Land nicht zur Wahl. Sie sind so frei. Die Leute dürfen Waffen tragen und das Establishment in Washington zum Teufel wünschen. Das ist normal. In friedlicheren Zeiten hat sich niemand daran gestört.

Aber das Vertrauen in die US-amerikanische Demokratie bröckelt. In Berlin schaut man da besonders genau hin. Vom John-F.-Kennedy-Platz über die Amerika-Gedenkbibliothek zum Luftbrückendenkmal, vom Checkpoint Charlie zum Amerika-Haus: Die deutsche Hauptstadt gleicht einem Themenpark der deutsch-amerikanischen Freundschaft. Wie hat er sich verändert, der amerikanische Freund! „We’re all living in America/America ist wunderbar“, dröhnt es bedrohlich im neuen Hit der deutschen Hammerrock-Band Rammstein, deren Name auf die US-Airbase in der Pfalz anspielt.

Die mächtigste und älteste Demokratie der Welt, von realer und übersteigerter Angst vor dem Terror erfüllt, riskiert ihre Vorbildfunktion. Sie diskreditiert eines ihrer kostbarsten Exportgüter: das Wahlrecht. Zumal in Ostdeutschland und Osteuropa wecken Unregelmäßigkeiten bei der Stimmabgabe ungute Erinnerungen. In Afghanistan, im Kosovo, in Lateinamerika macht das die Sache nicht leichter. Im Irak hat George W. Bush Krieg geführt, auch, um demokratische Wahlen herbeizuführen. Wie kann das funktionieren, wenn andere Kriegsgründe verdreht und gefälscht waren und zu Hause, im Land des Befreiers und Demokratiebringers, der Ausgang der Präsidentenwahl womöglich erst nach einem zermürbenden juristischen Grabenkrieg feststeht?

Darin liegt eine böse historische Ironie. Mit seiner Selbstgerechtigkeit und seinem Hang zur religiösen Schwärmerei gefährdet das Amerika der Bushs das, was es zu schützen verspricht: Demokratie und die Freiheit. Das schwer reformierbare, störungsanfällige US-Wahlrecht verstärkt diese Gefahr.

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