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Gül und Obama

© dpa

Obama in der Türkei: Neue Realität

Die Türkei baut ihr politisches Gewicht innerhalb der internationalen Beziehungen stückchenweise aus. Eine Tatsache, die den westeuropäischen Staaten nicht unbedingt angenehm ist. US-Präsident Barack Obamas Forderung nach der Aufnahme der Türkei in die EU bringt neue Brisanz in das wechselhafte Machtgefüge.

US-Präsident Barack Obama fordert öffentlich die Aufnahme der Türkei in die EU und unterstreicht die strategische Bedeutung des Verbündeten am Bosporus mit einem zweitägigen Besuch in Ankara und Istanbul. Unterdessen bringt die Türkei ihre Nato-Verbündeten in Bedrängnis, indem sie sich gegen die Ernennung von Anders Fogh Rasmussen zum neuen Generalsekretär sträubt und sich dann ihre Zustimmung mit politischen Zugeständnissen abkaufen lässt. In der türkischen Hauptstadt setzen sich die Präsidenten von Afghanistan und Pakistan zu gemeinsamen Gesprächen über Sicherheitsfragen an einen Tisch.   Diese Ereignisse der vergangenen Tage sind Ausdruck einer neuen Realität. Auch wenn es vielen westeuropäischen Staaten nicht recht passt: Die Türkei baut ihre politische Rolle in der eigenen Region und auf der internationalen Bühne systematisch aus. So gilt Obamas Besuch nicht nur der Türkei an sich. Der amerikanische Präsident verdeutlicht damit auch, dass ihm an guten Beziehungen zur islamischen Welt gelegen ist. Unter der fromm-konservativen Regierung Erdogan hat die muslimisch, aber säkulär strukturierte Türkei eine Führungsrolle in der islamischen Welt übernommen.   Die türkisch-amerikanischen Beziehungen sind keineswegs problemfrei. Die Krise von 2003, als sich der Türkei der US-Truppenstationierung für den Irak-Krieg verweigerte, ist noch nicht vergessen. Ankara sorgt sich, dass Obama den osmanischen Völkermord an den Armeniern anerkennen könnte. Doch offenbar ist die Obama-Regierung entschlossen, sich von diesen Differenzen nicht von dem Ziel abbringen zu lassen, die Türkei möglichst eng an sich und den Westen zu binden.   Obama handelt dabei sehr wohl im eigenen Interesse. In den vergangenen Jahren betätigte sich die Türkei als Vermittlerin im Nahen Osten und verbesserte ihre Beziehungen zu so schwierigen – aber wichtigen – Nachbarländern wie Iran und Syrien. Heute kann die Türkei mit Ländern und Gruppen sprechen, die für andere westliche Nationen wesentlich weniger zugänglich sind.   Mit ihrem starken Wirtschaftswachstum der vergangenen Jahre erwarb sich die Türkei einen Platz am Tisch der 20 größten Volkswirtschaften der Welt. Im UN-Sicherheitsrat sitzt sie derzeit ebenfalls. Zudem ist sie dabei, ihr Territorium zu einem Drehkreuz für die Energieversorgung des Westens zu machen. Die Zeiten, in denen die Türkei ihre Außenpolitik von dem Motto ‚Was werden die anderen Länder bloß sagen’ leiten lasse, seien ein für allemal vorbei, sagt Erdogan. Die Türkei sei sich ihrer eigenen Stärke bewusst.   Das ist für die Außenwelt nicht immer angenehm, besonders wenn die Türkei im rauhen Stil Erdogans auftritt. Auch leitet sich aus dem gewachsenen türkischen Einfluss in der Region nicht automatisch ein Anrecht Ankaras auf Mitgliedschaft in der EU ab, wie Erdogan das hin und wieder suggeriert.   Doch dass die Türkei international politisch stärker ist als noch vor fünf Jahren, ist eine Tatsache, die zwar von den USA erkannt wurde, bisher aber nicht aber von der EU. Dabei ist diese Entwicklung wichtig für Europa. Denn Einfluss und Interessen der Türkei in anderen Regionen haben zur Folge, dass die Rolle Europas in der Ankaraner Außenpolitik relativ gesehen abnimmt. Deshalb schwinden die Möglichkeiten der Europäer, mit Verweis auf die EU-Beitrttsgespräche Einfluss auf die Türkei zu nehmen. Das betrifft das Zypern-Problem ebenso wie das Verhalten der Türkei in der Nato.   Mittelfristig könnte der Einflussverlust der EU dazu führen, dass der türkische EU-Beitrittsprozess zu einer reinen Formalie wird, die von beiden Seiten nur noch halbherzig betrieben wird. Einige Experten sehen eine solche Entwicklung schon jetzt voraus. Sollte es so kommen, wären die Europäer die unangenehme Frage los, ob sie die Türkei letztendlich in die EU aufnehmen wollen. Vielleicht erwärmt sich Ankara eines Tages sogar für das Modell einer privilegierten Partnerschaft, die eine Vollmitgliedschaft der Türkei ausschlösse, aber Ankara mehr eigenen außenpolitischen Spielraum ohne EU-Disziplin ermöglichen würde. Auf eines aber sollte die EU nicht hoffen: Dass sie auf der internationalen Bühne die Türkei und deren Interessen ignorieren kann.

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