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Obamas Strategie: Wende zurück nach Europa

Obama hat bei seinem Berlin-Besuch eine klare Agenda. Er will Zuversicht wecken, aber vor allem will er für sein Projekt werben: die größte Freihandelszone der Welt.

Jeder Staatsbesuch hat seinen historischen Kontext. Präsident Barack Obama kommt in einer Zeit nach Berlin, in der die seit Jahrzehnten gewohnte Dominanz der westlichen Staaten infrage steht. Sie haben die ökonomische Basis ihrer Macht durch das Ausmaß ihrer öffentlichen Verschuldung untergraben, leiden noch immer unter den Folgen der Finanzkrise und tun sich schwer, das nötige Wachstum für einen neuen Aufschwung zu erzeugen. Zudem wird ihr Führungsanspruch durch den Aufstieg neuer Mächte in Asien, Südamerika und Afrika herausgefordert.

Das ist der Stoff, aus dem Obama die Rede am Brandenburger Tor und die generelle Botschaft dieses Besuchs schneidern wird. Natürlich wird er auch über die Datenabschöpfungsaffäre, die Terrorabwehr im Allgemeinen, Syrien, den Iran und den Abzug aus Afghanistan sprechen. Die strategisch-wirtschaftliche Herausforderung ist jedoch langfristig bedeutsamer.

Sie werden als Mutmacher gebraucht

Eines scheint ungeachtet aller Zeitenwenden für US-Präsidenten in Berlin zu gelten: Sie werden als Mutmacher gebraucht – und sie wollen solche Mutmacher für die Deutschen und die Berliner sein, noch immer. Im Kalten Krieg versprach Kennedy, die Freiheit West-Berlins zu verteidigen. Reagan erneuerte den Glauben, dass das Brandenburger Tor sich wieder öffnen werde. Bush Senior bot „Partnership in Leadership“ an. Clinton weckte nach dem Mauerfall die Hoffnung auf eine lange Epoche des Wohlstands in Frieden: „Nichts ist unmöglich“. Dann kamen 9/11, die Bedrohung durch Terror, die Finanzkrise, die Euro-Krise, Amerikas angebliche „Wende nach Asien“ und parallel dazu die Selbstbewusstseinskrise Europas.

Nun also Obama in Berlin. Er wird gewiss keine Rede über den unabänderlichen Abstieg des Westens halten, auch nicht Schweiß und Tränen einfordern oder über die Weisheit philosophieren, sich mit weniger ehrgeizigen Zielen als der Führung der Welt zu bescheiden. Das wäre unamerikanisch. Er wird Zuversicht wecken. Er wird darlegen, was Amerika und Europa tun können, um ihren Einfluss zu behalten – und warum das auch eine bessere Perspektive ist, als vor konkurrierenden Gesellschaftsmodellen und Werteordnungen zurückzuweichen.

Gemeinsam Standards setzen

Die Atlantische Partnerschaft wird nicht obsolet. Sie will neu interpretiert und gestaltet werden. Das Ausmaß ihrer Dominanz in der Weltpolitik mag sich graduell und allmählich verringern. Gebrochen ist sie noch lange nicht – jedenfalls nicht, wenn Amerika und Europa gemeinsam agieren. Die USA und die EU sind, jeder für sich genommen, nicht stark genug, um allen anderen ihren Willen und ihre Normen vorzugeben. Wenn sie sich jedoch zusammentun, haben sie einen großen Einfluss, dem sich andere nicht ernsthaft widersetzen können. Ein praktisches Beispiel: Würden sie sich auf einen gemeinsamen „Tankrüssel“ für Elektrofahrzeuge einigen, käme dann jemand in Asien oder Südamerika auf die Idee, einen eigenen, abweichenden Standard zu entwickeln?

Generell stehen die Wirtschaftsbeziehungen im Zentrum der Überlegungen, mit denen Obama die Atlantische Partnerschaft modernisieren möchte. Das zentrale Projekt heißt „Transatlantic Trade and Investment Partnership“ (TTIP). Wer will, kann das als eine Wende rückwärts deuten und als eine Wiederentdeckung Europas. Seit Obamas Asienreise im Herbst 2011 war viel davon die Rede, dass die USA sich von Europa abwenden und ihr Engagement in Asien verstärken, weil dies der Kontinent der Zukunft und China die künftige Weltmacht sei.

Diese Interpretation war übertrieben. Dazu hatten die USA mit einem unglücklichen Begriff beigetragen: „pivot to Asia“ (Wende nach Asien). In Europa reagierten viele pikiert oder mit Selbstmitleid. Das lag aber mehr an Selbstzweifeln angesichts der vielfachen Krisen in der EU und der Euro-Zone als an einer praktisch spürbaren Vernachlässigung durch Amerika.

Rückgrat der Weltwirtschaft

Seit Jahresende 2012 hat die US-Regierung die Wortwahl korrigiert. Sie spricht nun von einem „rebalancing“, wenn sie ihr Handeln in Asien erklärt. Obama hat TTIP in seiner Rede zur Lage der Nation hervorgehoben. Sein Vize Joe Biden hat den Europäern bei der Münchner Sicherheitskonferenz im Februar versichert, dass sie „der unersetzliche Partner“ und „der Partner der ersten Wahl“ bleiben. Am späten Freitag einigte sich die EU auf das Verhandlungsmandat für TTIP. Der audiovisuelle Bereich wird vorerst ausgeklammert. Frankreich verlangt einen besonderen Schutz für seine Sprache, Kultur und Filmindustrie.

TTIP kann auf dreifache Weise zu einem Wendepunkt werden. Es kann den westlichen Volkswirtschaften den Wachstumsschub geben, auf den sie so dringend warten. Psychologisch womöglich noch wichtiger ist: Die Debatte über das Projekt kann verbreitete, aber irreführende Bilder von den realen Wirtschafts- und Machtverhältnissen in der Welt korrigieren. Und TTIP kann die befürchtete Machteinbuße des Westens stoppen oder zumindest deutlich verlangsamen.

In den USA und Europa leben etwa zehn Prozent der Weltbevölkerung. Sie sind aber das Rückgrat der Weltwirtschaft, auch wenn so viele dauernd von Asien reden. Sie erzeugen rund 50 Prozent des globalen Bruttosozialprodukts. Sie erledigen mehr als 70 Prozent aller Finanzdienstleistungen. Sie sind der Motor der Innovation und stehen für 60 Prozent der weltweiten Ausgaben für Forschung und Entwicklung. Amerika und Europa sind auch das Ziel der meisten Direktinvestitionen, nicht etwa China oder Asien insgesamt. 60 Prozent des weltweiten Foreign Direct Investment (FDI) fließen in die EU und die USA. Wenn der Satz stimmt, dass Investitionen Entscheidungen über die Zukunft sind, sehen Anleger also offenbar mehr Zukunft in Europa und Amerika als in Asien. Angesichts dieser Dominanz schaffen selbst kleine Wachstumsraten im Wirtschaftsaustausch über den Atlantik mehr Arbeitsplätze als hohe Wachstumsraten in den sogenannten Zukunftsmärkten wie China oder Indien.

Wachstum dringend gesucht

TTIP kann dieses Wachstum auslösen. Laut Prognosen könnten es bis zu 1,5 Prozentpunkte sein. Das ist womöglich zu optimistisch. Aber auch ein zusätzlicher Wachstumseffekt von einem halben Prozentpunkt wäre hoch willkommen in der EU, die mit Rezessionsgefahr kämpft, und ebenso in den USA, die derzeit rund zwei Prozent erzielen, damit aber hinter ihren Plänen zurückliegen. Zudem sind die gewohnten Mechanismen zur Wachstumsförderung jetzt verbaut. Staatliche Konjunkturprogramme verbieten sich angesichts der Schuldenberge, die Amerika und Europa aufgebaut haben. Die Zinsen kann man auch nicht weiter senken; sie liegen bereits nahe null.

So bleibt nur ein alternativer Ansatz: Kostenreduzierung durch Abbau der Zölle sowie der nichttarifären Handels- und Investitionshindernisse. Das ist das Ziel von TTIP. Zölle spielen im atlantischen Handel kaum noch eine Rolle. Teuer sind aber andere Barrieren, zum Beispiel durch unterschiedliche Industrienormen, Sicherheitsstandards und Zulassungsverfahren. Ein Auto, das in den USA und in der EU verkauft werden soll, muss alle Tests zwei Mal durchlaufen. Ein Crashtest, erzählen Insider, wird in Deutschland bei 50 km/h durchgeführt, und in den USA, wo man in Meilen rechnet, mit umgerechnet 48 km/h. Kein großer Unterschied, aber es verursacht doppelte Kosten. Das verteuert die Preise für die Verbraucher. Dasselbe gilt für Kindersitze, Windschutzscheiben, Brandschutz rund um den Tank und so weiter. Jede Branche hat solche Beispiele, wo es klemmt – und was sich durch TTIP verbessern könnte. Die Produkte würden billiger, wenn man sich auf gemeinsame Standards einigt oder ersatzweise auf das Prinzip: Ein Test, der in der EU erfolgreich war, gilt auch in den USA – und umgekehrt.

Das Ziel: Zum „gold standard“ werden

Wie immer gibt es bei solchen Projekten auch Gegner, teils weil sie Nachteile wegen des höheren Wettbewerbsdrucks befürchten, teils aus Prinzip. Landwirte auf beiden Kontinenten lebten bisher gut mit den geschützten Agrarmärkten. Manche Europäer empfinden es als Horrorvorstellung, dass in einigen Jahren genveränderte Lebensmittel aus den USA in europäischen Geschäften zu finden sein könnten – auch wenn sie deutlich sichtbar gekennzeichnet wären, der Verbraucher also die Wahl hätte. Wäre TTIP einfach durchzusetzen, dann gäbe es das Abkommen wohl längst. Mehrere Anläufe zu ähnlichen Abkommen waren in den vergangenen zwei Jahrzehnten gescheitert.

Eines hat sich geändert: die Dringlichkeit. Deshalb betreiben Kanzlerin Merkel und Präsident Obama TTIP nun mit besonderem Nachdruck. Möglicherweise ist dies die letzte aussichtsreiche Chance für Europa und Amerika, ihre technisch-wirtschaftliche Dominanz und ihren Führungsanspruch zu behaupten. Heute würden sich andere Kontinente noch nach ihren Vorgaben richten, wenn sie sich auf gemeinsame Standards und Verfahrensregeln einigen und die größte Wirtschaftszone für Freihandel und Investitionen auf der Erde schaffen. Ihre Vorgaben würden automatisch zum „gold standard“ der Weltwirtschaft. Scheitern sie, wird es so schnell keinen neuen Anlauf geben. Und ob Asien sich in 15 bis 20 Jahren noch nach einem Westen richtet, der die Chance zur Selbstbehauptung verpasst hat, ist zumindest fraglich.

Obama öffnet mit seiner Rede in Berlin die Gelegenheit zu „Partnership in Leadership“. Sie ist eine Einladung zur Investition in eine gemeinsame atlantische Zukunft.

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