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Kampfzone. In der Innenstadt von Kiev liefern sich Demonstranten und Sicherheitskräfte Gefechte.

© AFP

Update

Machtkampf in Ukraine: Opposition lehnt Angebot ab - Demonstranten besetzen Kongresszentrum

Wochenlang zeigt sich die ukrainische Staatsführung unerbittlich, dann kommt die Überraschung. Die Opposition soll die Regierung übernehmen. Doch diese lehnt das Angebot ab. In der Nacht kam es zu weiteren gewaltsamen Auseinandersetzungen.

Nach dem gescheiterten Kompromiss zwischen der prorussischen Staatsführung und der Opposition um Vitali Klitschko haben die Regierungsgegner in der Ukraine ihre Proteste ausgeweitet. In Kiew besetzten die Demonstranten auch das Kongresszentrum am zentralen Europaplatz. Sicherheitskräfte mit Tränengas und Blendgranaten versuchten vergeblich, den Sturm auf das Gebäude abzuwehren. „Die Luft für Präsident Viktor Janukowitsch wird immer dünner“, sagte eine Sprecherin der Regierungsgegner am Sonntag. Im nationalistisch geprägten Westen der Ex-Sowjetrepublik hielten Demonstranten in mehreren Städten weiter offizielle Gebäude besetzt.

Das Kongresszentrum sei „ohne Blutvergießen eingenommen“ worden, sagte Klitschko. Fernsehbilder zeigten starke Schäden am Gebäude. „In den Büros wird Essen und heißer Tee ausgegeben, hier können sich unsere Kampfgenossen aufwärmen“, sagte eine Sprecherin der Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko. In Kiew herrschte strenger Frost bei minus 20 Grad. Die Opposition hält bereits mehrere Gebäude in der Hauptstadt besetzt.

Innenminister Witali Sachartschenko warf den Regierungsgegnern „Extremismus“ vor. „Wir haben die Einheiten dann (vom Kongresszentrum) zurückgezogen, damit die Lage nicht weiter eskaliert“, sagte er. Die Partei des prorussischen Staatschefs Janukowitsch kündigte unterdessen an, einer Änderung umstrittener Gesetze zur Einschränkung des Demonstrationsrechts doch zustimmen zu wollen. „Die Novelle ist fertig“, sagte der Abgeordnete Nikolai Rudkowski. Die Änderung gilt als wichtige Forderung der Opposition.

Opposition lehnte Angebot von Janukowitsch ab

Die ukrainische Opposition hatte zuvor von Präsident Viktor Janukowitsch überraschend angebotene Regierungsbeteiligung abgelehnt. „Wir geben nicht nach. Wir sind friedliche Menschen, die ihre Rechte und Forderungen verteidigen“, sagte Vitali Klitschko am Samstagabend vor jubelnden Anhängern im Zentrum der Hauptstadt Kiew. Die Ukraine müsse noch in diesem Jahr Wahlen abhalten, um den an Russland orientierten Präsidenten abzulösen, forderte Klitschko.

Der frühere Außenminister Arseni Jazenjuk sagte auf dem Unabhängigkeitsplatz (Maidan), die Opposition sei bereit, die Regierung zu übernehmen - aber nur, um das Land dann in die Europäische Union zu führen. Seine Bewegung habe keine Angst, Verantwortung zu übernehmen. „Aber wir glauben der Staatsmacht kein einziges Wort“, rief Jazenjuk.

Nach wochenlangem Machtkampf hatte der ukrainische Präsident Viktor Janukowitsch der Opposition um Vitali Klitschko völlig überraschend führende Regierungsämter angeboten. Der frühere Außenminister Arseni Jazenjuk sollte neuer Regierungschef und Klitschko dessen Stellvertreter werden. Das teilte Justizministerin Jelena Lukasch am Samstag nach einem Krisentreffen mit, wie die Präsidialverwaltung in Kiew bekanntgab.

Die ukrainische Opposition ist zersplittert: Vitali Klitschko (l-r), Julia Timoschenko, Arsenij Jazenjuk, Petro Poroshenko und Oleg Tjagnibok.
Die ukrainische Opposition ist zersplittert: Vitali Klitschko (l-r), Julia Timoschenko, Arsenij Jazenjuk, Petro Poroshenko und Oleg Tjagnibok.

© dpa

Das Angebot an die Opposition sehe auch eine Straffreiheit für Oppositionsanhänger vor, die bei den seit Wochen andauernden Demonstrationen festgenommen worden waren. Im Gegenzug müssten alle blockierten Plätze und Gebäude im Zentrum von Kiew geräumt werden.

Zudem stellte Janukowitsch eine Änderung der zuletzt verabschiedeten Gesetze zur Einschränkung der Demonstrations- und Pressefreiheit in Aussicht. Diese international scharf kritisierten neuen Gesetze waren Auslöser der gewalttätigen Proteste Mitte Januar gewesen. Die von der Opposition wiederholt kritisierte Wahlkommission solle künftig nach den Kräfteverhältnissen im Parlament gebildet werden.

In einem Fernseh-Duell will sich Janukowitsch Klitschko stellen

Janukowitsch schlug Klitschko darüber hinaus ein Fernseh-Duell vor, bei dem alle strategischen Fragen des Landes erörtert werden sollten. Der Oppositionspolitiker habe zugestimmt, teilte das Präsidialamt mit. Klitschko hatte eine solche öffentliche Diskussion mehrfach vergeblich gefordert.

Regierung und Opposition liefern sich seit zwei Monaten einen erbitterten Machtkampf, der die frühere Sowjetrepublik in eine tiefe Krise stürzte. Die lange Zeit friedlichen Massenproteste gegen den prorussischen Kurs von Janukowitsch waren zuletzt in Gewalt umgeschlagen. Dabei starben mindestens vier Menschen, Hunderte wurden verletzt. Die Europäische Union und die Bundesregierung riefen den Staatschef mehrfach mit Nachdruck zum Einlenken auf. Erst am Samstag hatte EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle bei einem Besuch in Kiew alle Konfliktparteien aufgefordert, die Gewalt zu stoppen.

Bei Einverständnis der Opposition mit diesem Plan erkläre die bisherige Regierung von Ministerpräsident Nikolai Asarow ihren Rücktritt, hieß es aus der Präsidialverwaltung. Zudem stellte Janukowitsch eine Verfassungsänderung in Aussicht. Im Gespräch sei der Übergang zu einer parlamentarischen Präsidialrepublik. Bislang hat der Präsident alle zentralen Machtbefugnisse in seiner Hand.

Klitschko hatte mehrfach den Rücktritt Janukowitschs gefordert

Zwar stellte Janukowitsch zuletzt bereits Zugeständnisse in Aussicht. Die Opposition bezeichnete dies aber als „Hinhaltetaktik“.

Klitschko hatte mehrfach ultimativ den Rücktritt des Präsidenten und Neuwahlen gefordert. Nur ohne Janukowitsch und dessen enge Beziehungen zum russischen Präsidenten Wladimir Putin könne der zweitgrößte Flächenstaat Europas den Weg der Westintegration gehen, hatte der Ex-Boxweltmeister betont. Die Opposition hatte auch eine Freilassung der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko zur Bedingung für einen politischen Neubeginn gemacht.

Als unklar galt, wie sich das Angebot von Janukowitsch auf die andauernden Straßenproteste in Kiew auswirkt. In der Hauptstadt war es am Freitagaben nach einer zwischenzeitlichen Beruhigung erneut zu Zusammenstößen zwischen Sicherheitskräften und Regierungsgegnern mit Brandsätzen und Tränengas gekommen. Die Vaterlandspartei der inhaftierten Ex-Regierungschefin Julia Timoschenko hatte Janukowitsch davor gewarnt, den Ausnahmezustand zu verhängen. „Das würde das Land spalten“, hieß es in einem Aufruf.

Die Stimmung in Kiew war am Samstag unverändert aufgeladen

Im Zentrum von Kiew drohten die Sicherheitskräfte den hinter Barrikaden verschanzten Regierungsgegnern mit einer Offensive, sollten sie nicht zwei entführte Milizionäre herausgeben. Die Demonstranten wiesen die Schuld am Verschwinden der Polizisten zurück. Regierungsgegner versuchten nach der Besetzung des Agrarministeriums, auch das Energieministerium zu stürmen. Das Behörde gilt als Schlüsselressort der Ex-Sowjetrepublik: Die Ukraine ist das wichtigste Transitland für russische Gaslieferungen in die EU. Die Demonstranten verließen nach kurzer Zeit das Gebäude wieder.

Präsident Janukowitsch ernannte unterdessen seinen Vertrauten Wladimir Makejenko zum neuen Chef der Verwaltung in Kiew. Der bisherige Parlamentsabgeordnete Makejenko, der in Russland geboren ist, gilt als Befürworter einer „harten Linie“ auch gegen friedliche prowestliche Demonstranten. EU-Erweiterungskommissar Stefan Füle forderte in Kiew alle Konfliktparteien auf, die Gewalt zu stoppen.

Der prorussische Präsident Janukowitsch versuche, sich „um den Preis von Blut und Destabilisierung an der Macht zu halten“, sagte Klitschko. In einem knapp einminütigen Clip, den seine Partei Udar (Schlag) in Kiew veröffentlichte, betonte der Ex-Boxweltmeister, die Behörden seien zum Schutz der Menschen da. „Führen Sie keine verbrecherischen Befehle aus und lassen Sie sich nicht zu ungerechten und illegalen Handlungen hinreißen“, appellierte er an Polizei und Justiz. Klitschko fordert unter anderem Janukowitschs Rücktritt.

Das Gesundheitsamt bestätigte den Tod eines Mannes. Er sei in einer Klinik seinen Brustverletzungen erlegen. Über die Hintergründe machte die Behörde zunächst keine Angaben. Eine Sprecherin der Demonstranten sagte, es handele sich um einen 45-jährigen Regierungsgegner aus der Westukraine. Sie machte die Polizei für den Tod verantwortlich. Bisher haben die Behörden drei Opfer bestätigt.

Innenminister Witali Sacharschenko drohte den Demonstranten indirekt mit einer gewaltsamen Auflösung der Proteste. „Versuche einer friedlichen Lösung waren bisher zwecklos“, warnte er.

Im nationalistisch geprägten Westen des Landes hielten Demonstranten in mehreren Städten weiter offizielle Gebäude besetzt. So stürmten in Winniza Regierungsgegner den Sitz des örtlichen Rats.

Einflussreiche Sportvereine erklärten sich solidarisch mit den Demonstranten

Im Osten der Ukraine, der als Hochburg von Janukowitsch gilt, erklärten sich Fanclubs einflussreicher Sportvereine solidarisch mit den Demonstranten auf dem Unabhängigkeitsplatz in Kiew.

Die Proteste waren ausgebrochen, nachdem Janukowitsch im November auf Druck Russlands ein von der Opposition als historische Chance betrachtetes Annäherungsabkommen mit der EU auf Eis gelegt hatte.

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