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Unter Druck: Vor allem die Union schießt im Wahlkampf massiv gegen Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin. Foto: Rainer Jensen/dpa

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Debatte um Grünen-Programm von 1981: Pädophilie-Passagen wurden kaum gelesen

Der Grünen-Spitzenkandidat Jürgen Trittin zeigt Mitgefühl für Missbrauchsopfer. Und Claudia Roth wirft der CSU Scheinheiligkeit vor.

Berlin - Es ist das erste Mal, dass Jürgen Trittin so viel Anteilnahme zeigt. „Wir Grünen, mich eingeschlossen mit der Verantwortung, haben in den frühen 80er Jahren eine Position vertreten zur Pädophilie, die muss allen Missbrauchsopfern als Hohn erscheinen. Und das ist ein Fehler gewesen“, sagt der Grünen-Spitzenkandidat am Dienstag, als er in Augsburg bei einer Abschlusskundgebung der bayerischen Grünen zur Bundestagswahl auftritt. Es ist ein neuer, emotionaler Ton, den Trittin anschlägt.

Bisher hatte er mehrfach zugegeben, dass es ein Fehler war, dass die Grünen in den 80er Jahren Raum ließen für pädophilenfreundliche Forderungen und dass er dies bedauere. Doch wenn es um mögliche Opfer ging, griff er zu umständlichen Formulierungen und forderte sie auf, sich bei Professor Franz Walter zu melden, so wie der es angeboten hatte. Der Politikwissenschaftler Walter ist von den Grünen beauftragt, den Einfluss pädophiler Strömungen in den Gründungsjahren der Partei aufzuarbeiten.

Seit Montag steht Trittin unter Druck. In der „Taz“ hatte Walter in einem Gastbeitrag öffentlich gemacht, dass Trittin presserechtlich verantwortlich war für ein Programm zu den Kommunalwahlen in Göttingen im Jahr 1981. In diesem wurde die Forderung erhoben, sexuelle Handlungen zwischen Erwachsenen und Kindern oder Jugendlichen straffrei zu stellen, wenn sie nicht unter „Anwendung oder Androhung von Gewalt“ oder durch Missbrauch eines Abhängigkeitsverhältnisses zustande kommen, etwa zwischen Lehrer und Schüler.

Zur Schlussredaktion gehörten damals neben Trittin vier weitere Personen: darunter der Journalist Andreas Wrede, zu Bonner Regierungszeiten politischer Korrespondent der „Bild“-Zeitung, später Chefredakteur von „Max“, und Matthias Brachmann, heute Fraktionsgeschäftsführer der Grünen im Göttinger Kreistag. Die beiden erinnern sich, wie das Programm zustande kam. „Manche Kapitel wurden von Externen zugeliefert, die sind ungeprüft ins Programm reingewitscht“, sagt Brachmann. So auch das Kapitel „Schwule und Lesben“, in dem Lockerungen des Sexualstrafrechts gefordert wurden und das von der „Homosexuellen Aktion Göttingen“ stammte.

Die Schlussredaktion hatte laut Brachmann die Aufgabe, das Programm der Grünen-Liste AGIL textlich zu überarbeiten, etwa Schreibfehler zu korrigieren. An Diskussionen über Pädophilie kann er sich nicht erinnern. „Wenn es die gegeben hätte, dann hätten wir diesen Fehler nicht gemacht“, sagt er heute. Auch Wrede beschreibt auf bild.de, dass die Texte „meist nur oberflächlich“ gelesen wurden. Beide berichten, dass eines von Trittins Hauptanliegen damals war, für mehr Wohnraum in Göttingen zu kämpfen. „Studenten besetzten zu der Zeit Häuser, die abgerissen werden sollten“, sagt Brachmann. Trittin, selbst Student, kandidierte für den Stadtrat.

Inhaltlich unterscheiden sich die Göttinger Forderungen nicht von dem, was auch im Bundesprogramm der Grünen 1980 stand. Doch dass Trittins Name auftaucht, versucht die Union wenige Tage vor der Bundestagswahl zu nutzen. Mehrere Unions-Politikerinnen, darunter die Vizegeneralsekretärin der CSU, forderten am Montag die grüne Spitzenkandidatin Katrin Göring-Eckardt in einem Brief auf, sich aktiv in die Aufklärung der „Pädophilie-Verstrickungen“ ihres Kollegen Trittin einzuschalten. „Als Mutter zweier Söhne dürfen Sie zu sexuellem Missbrauch an Kindern und Jugendlichen nicht schweigen“, heißt es in dem Schreiben, aus dem die „Leipziger Volkszeitung“ zitiert.

Grünen-Chefin Claudia Roth wiederum warf mehreren Unions-Politikern Scheinheiligkeit vor. CSU-Generalsekretär Alexander Dobrindt diskriminiere offen Schwule und Lesben und hetze gegen Flüchtlinge, sagte Roth. Und CSU-Landesgruppenchefin Gerda Hasselfeldt habe zusammen mit Unions-Fraktionschef Volker Kauder und dem heutigen CSU-Chef Horst Seehofer 1997 im Bundestag gegen die Strafbarkeit von Vergewaltigung in der Ehe gestimmt. „Von all denen müssen wir Grüne uns nicht sagen lassen, was Moral ist und was verantwortungsvolles Handeln ist“, sagte Roth.

Der Chef der Grünen-nahen Heinrich-Böll-Stiftung, Ralf Fücks, mahnt hingegen seine Partei zu „Demut“. Die Grünen müssten zeigen, „dass wir nicht die besseren Menschen sind und nicht die bessere Moral gepachtet haben, sondern uns ernsthaft dieser Debatte stellen“, sagte er im ZDF. Die Grünen hätten zwar programmatisch reinen Tisch gemacht – im Jahr 1989 distanzierte sich die Partei unmissverständlich von den früheren Forderungen –, sie habe diesen Teil der Geschichte aber „lange verdrängt“.

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