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Jost Müller-Neuhof

© Kai-Uwe Heinrich

Parlament und Gesetz: Es werde Recht

Die Politik verhandelt Meinungen, Werte und Gesellschaftsentwürfe. Wie daraus Gesetze entstehen, bleibt undurchsichtig. Zeit, das zu ändern.

Alle reden von Politik, die wenigsten von Gesetzen. Merkwürdig: Denn wenn Politik ein Gemeinwesen ordnen soll, ist das Gesetz das wichtigste Instrument dafür. Warum ist es dann so egal, warum überlässt man es Fachleuten, warum macht keine Partei Wahlkampf damit? Der politische Wille mag mächtig sein. Doch reicht er nur so weit, wie es jenes Instrument erlaubt, das ihn wirklich werden lässt. Gesetzgebung ist mehr als Verkündung politischer Absicht. Sie ist ein Dialog mit den Mitteln über die Möglichkeiten: Recht bestimmt mit, was die Politik zu Recht erklärt.

Ein schwieriger Dialog. An ihm beteiligt sind nicht bloß Heerscharen von Ministerialbeamten, es sind auch zig Verbände, Berater, Lobbygruppen, Vereine und Initiativen. Ungezählte Diskussionen, Stellungnahmen, Fachgutachten und Vorschläge münden in ein gestanztes Stück Norm, abgefasst im bürokratisch-verallgemeinernden Duktus legislativer Textproduktion, eingewoben in zehntausende Einzelparagrafen.

Am Ende ist niemand zufrieden. Die Maschine wird wieder angeworfen, die erste Änderung vorbereitet. Schließlich jammern alle: Es gibt zu viele, zu schlechte, zu komplizierte Gesetze. Und ohnehin haben Lobbygruppen sie diktiert.

So geht es nicht weiter! Oder doch? Und wenn nicht – wie sonst? Der Wunsch, dass alles bleibt wie es ist, wäre nicht der geringste. Demokratie, Legislative und Rechtsstaat, sie haben ein hohes Niveau in Deutschland. Die politische Führung wird, trotz Verdrossenheitslamento, akzeptiert, ebenso die Urteile der Gerichte. Die Gesetze, so schlecht und unverständlich sie sein mögen, funktionieren. Warum dann die Nörgelei?

Die Wahrheit ist, dass das Klagen über schlechte und bürokratische Gesetze schon in der Antike bekannt war. Die Kritik hat gleichwohl einen Zweck, sie hält einen jahrtausendealten und bis in die Gegenwart hochaktiven Prozess lebendig: die Verrechtlichung. Alle Weltgesellschaften geben sich Normen, sobald sie enger zusammenrücken. Und Normen produzieren weitere Normen. Ein schönes Beispiel ist Artikel 3 im Grundgesetz. „Alle Menschen sind vor dem Gesetz gleich“. Weil Menschen aber ungleich sind und immer neue Ungleichheiten entstehen, müssen sie per Gesetz ausgeglichen werden, damit „vor dem Gesetz“ wieder alle gleich sind. Selbst wenn die Politik mal etwas ermattet, die Normen selbst sind es, die ungeheure legislative Dynamik entfalten.

Das bedeutet keine Kapitulation. Der Prozess ist beherrschbar, erforschbar und gestaltungsfähig. Was ihn eigentlich als politische, wissenschaftliche und exekutive Aufgabe definieren würde. Tatsächlich tut sich wenig. Seit ein paar Jahren gibt es einen „Nationalen Normenkontrollrat“, der Gesetze auf ihre Kosten durchrechnen soll. Bundestag und Justizministerium leisten sich ein paar Leute, die sich um Sprache und Redaktion der Gesetze kümmern. Mehr politischer Ehrgeiz ist nicht ersichtlich. In der Wissenschaft versucht sich eine Gesetzgebungslehre zu etablieren. Über ein paar Monografien und Aufsätze ist das Projekt nicht hinausgekommen, während die Exekutive ihre Entwürfe fröhlich und nach eigenem fachlichen Gutdünken vor sich hin produziert. Am Ende guckt das Justizministerium nur noch mal auf die „Rechtsförmlichkeit“. Strukturen für bessere Gesetze sind in der Ministerialbürokratie ein Exotenthema. Dabei kann der erste fertige Text entscheidend für alle späteren Diskussionen sein. Beim Gesetze- und Wurstmachen, wusste Reichskanzler Bismarck, schaut man besser weg.

Bismarck hat recht, wenn man Politik in die Gesetzesform presst wie Fleischbrät in den Schweinedarm. Das will ja heutzutage keiner mehr. Deshalb stellt man ein paar Schrauben, schreibt ehrenwerte Sätze in die ministeriale Geschäftsordnung, redet von Transparenz, stellt Lobby-Kontrolllisten auf. Immerhin gelang es kürzlich, 1000 überflüssig gewordene Gesetze einfach mal zu streichen. Man kann so weitermachen, mal hier, mal dort reparieren. Oder man sucht nach grundlegend neuen Verfahren.

Noch nie in der Geschichte bot sich dafür eine Chance wie heute. Man muss dafür nur die Perspektive wechseln. Weg vom Partei- und Gremienwirken, hin zu den Einflussfaktoren der Normgenese.

Wo werden Vorschriften produziert? Parteien und ihre Gremien diskutieren Vorhaben und Ziele, die regelmäßig von einer Regierungspartnerschaft, einer Koalition, ins Werk gesetzt werden. Das Parlament nickt ab oder ändert leicht, was Ausschüsse verabredet und Ministerien formuliert haben. Die wahre Macht halten die Parteichefs in den Händen, weshalb sie es sind, die Koalitonsverträge unterzeichnen und nicht, wie es dem höchsten Repräsentationsorgan des Souveräns angemessen wäre, die Fraktionschefs im Bundestag. Demokratieprinzipiell ist das alles nicht sehr feierlich. Den politischen Akteuren gefällt es jedoch und vielen Bürgern auch. Denn die Herrschenden präsentieren sich als Handelnde, als jene, die etwas zu „Chefsache“ machen, zupacken und entscheiden. Man mag das hierzulande. Unterschwellig werden damit Unsicherheitsgefühle bewältigt, die dem parlamentarischen Diskurs zu eigen sind. Es gibt Führung statt Streit.

Was braucht nun ein gutes Gesetz? Führung oder Streit? Normativ gewollt ist der produktive Streit, regierungspraktisch ist Führung besser. Ratsam wäre, das Verfahren deshalb auf eine dritte Ebene zu heben, um beide Kräfte in ausgewogene Verhältnisse zu bringen. Weil jede neue Institution verfassungsfremd wäre, kann es sich nur um eine kommunikative Ebene handeln: Ein Forum, auf dem sich Ideengeber und Sachkundige strukturiert und nachvollziehbar einbringen können. Auf dem Vorschläge und Anregungen organisiert, präsentiert und visualisiert werden. Auf dem Optionen geprüft und verworfen werden können.

In der Weltgeschichte der Gesetze hat es so etwas nie gegeben. Erst mit dem Internet deuten sich technische Möglichkeiten an. Das Internetlexikon Wikipedia etwa hat Schwächen, aber es hat den Beweis angetreten, das sich kollektives Wissen organisieren und gestalten lässt. Ein Gesetz zu schreiben ist ungleich komplexer und in jeder Hinsicht anspruchsvoller. Ein Vorbild wäre das „Cloud Computing“, ein Begriff aus der IT-Sprache, der die Verlagerung aller für eine Aufgabe nötigen Prozesse, Steuerungen und Software in eine Internet-„Wolke“ beschreibt.

Statt sich die nächste Verordnung auszudenken, könnten ein paar der Referenten in den Ministerien Modelle ersinnen, wie Stichworte, Textteile und Funktionslogik von Gesetzen so gegliedert werden, dass man sie in der Wolke bearbeiten kann: Das Recht fiele vom Himmel. Seine Schöpfung bliebe dem Expertendiskurs vorbehalten. Aber ein Blick nach oben reicht, um die Wolke zu sehen.

Gesetzentwürfe zu wichtigen Vorhaben der Regierung stehen heute schon frühzeitig auf den Websites der Ministerien. Das ist nicht nur Service, es entspricht dem Transparenz- und Demokratiegebot des Grundgesetzes. Die neuen Medien erweitern die Räume politischer Willensbildung. Gesetzentwürfe würden ein Teil davon. Bismarcks Wurstvergleich wäre in sein Gegenteil verkehrt: Man kann, man soll jetzt hinsehen.

Eine derart öffentliche, kollektive, dennoch sorgfältig moderierte Urheberschaft von Gesetzentwürfen würde, ganz nebenbei, auch den wuchernden Lobbyismus unter Kontrolle bringen. Die Interessenverbände können ihre Vorschläge machen und ihre Texte formulieren. Jeder könnte anschließend sehen, welche Elemente oder Passagen sich im fertigen Entwurf wiederfinden.

Zu wünschen bliebe, dass sich mit einem solchen Entwurfsmodell auch etwas ändert im Bewusstsein der nichtstaatlichen Akteure. Eigentum verpflichtet, klar. Expertenwissen aber auch! Wenn, wie in der Bankenkrise geschehen, eine private Anwaltskanzlei sich bezahlen lässt, dem Staat ein Gesetz zu schreiben, um ein System zu retten, dass beide, Staat und Kanzlei, am Leben hält, ist beiden nicht zu helfen. Es ist eine Ehre, sich direkt am Gesetzentwurf engagieren zu dürfen, eine Ehre, die auszeichnet und mit der sich werben lässt. „Corporate Citizenship“ sagen Manager und Werbeleute dazu. Juristen könnten es lernen.

Naiv? Vielleicht. Aber es müsste einfach nur einer anfangen. Und dann wird solches Tun eines Tages – die Norm.

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