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Parlamentswahl: Demokratische Beben in Afghanistan

Wahltag in Kabul: Manche gehen zur Urne, andere kaufen ein – Vertrauen in die Politik haben nur wenige.

Schranktüren fliegen auf, Fensterscheiben klirren, Betten wackeln. Zwischen Mitternacht und ein Uhr am Samstagmorgen scheint eine gewaltige Hand Kabul zu schütteln – ausgerechnet in der Nacht vor den Wahlen. Kein Zufall, meint Siddiq und verweist auf eine afghanische Volksweisheit. „In einem Jahr, in dem die Erde mehrmals bebt, tritt der alte Herrscher ab.“ Wenn es nach ihm ginge, fügt er mit breitem Grinsen an, könnte die Stadt durchaus noch ein paar Erdstöße vertragen. Präsident Karsai sei zwar, wie er selbst, Paschtune. „Aber nur ein Aushänge-Paschtune, der sich von den Tadschiken und Usbeken aus dem Norden herumschubsen lässt.“

Der Endfünfziger mit dem wettergegerbten Gesicht und dem Jackett über dem landesüblichen Hemdgewand hat bessere Tage gesehen: Unter den Sozialisten Polizeioberst, unter den Taliban auf Tauchstation, in den ersten Jahren der Karsai-Regierung – er beugt sich vor und flüstert – Geheimdienstmitarbeiter, dann arbeitslos, verdingt er sich jetzt als Fahrer ausländischer Kunden. Zu den wenigen Dingen, die ihm aus seiner großen Zeit geblieben sind, gehören seine guten Kontakte zur Polizei. Er muss nur die Namen einiger alter Bekannter von der Polizeiakademie nennen, Offiziere, die auch jetzt wieder im Amt sind, um an Checkpoints durchgewunken zu werden.

Heute gibt es zahlreiche davon. Auf Toyota-Pickups stehen Polizisten hinter schweren Maschinengewehren. Sie alle tragen Helme. An strategisch wichtigen Kreuzungen, den Zufahrten zu Botschaften und Ministerien, ist Stacheldraht ausgerollt. Sandsäcke türmen sich auf, spanische Reiter versperren den Weg – ein Hauch von erstem Weltkrieg, der sonderbar mit der feiertäglichen Stimmung kontrastiert. Der 18. und 19. September sind in Afghanistan arbeitsfrei. Seit sieben Uhr morgens sind die Wahllokale geöffnet. Viele nutzen die Gelegenheit, um Freunde und Verwandte zu besuchen, andere bleiben aus Angst vor Anschlägen lieber zu Hause. Vor vielen Geschäften sind die Läden heruntergelassen, andere Verkäufer bedienen auch an diesem Tag ihre Kunden. Wer sie nach ihrer Meinung zu Politikern und Parlament fragt, hört keine politischen Visionen, sondern erfährt viel über den afghanischen Alltag. Homma etwa, eine Gynäkologin Ende 30, die in einer Boutique ein Kleid sucht, stammt aus dem westafghanischen Herat. Eigentlich wollte sie heute morgen aus Kabul in ihre Heimatstadt zurück, aber der Flug ist annulliert worden. Ihr Wahllokal wird sie wohl kaum noch rechtzeitig erreichen. Die Präsidentschaftswahl im vergangenen Jahr war aus ihrer Sicht nur eine Farce, gefälscht und unglaubwürdig. Ob es diesmal besser war? Sie lächelt und zupft sich das lange Kopftuch zurecht, das über ihren dunkelbraunen Haaren liegt. Als Einwohnerin von Herat traut sie vor allem den Politikern von dort. „Die Heratis könnten es vielleicht richten.“ Nicht wenige orientieren sich wie sie in erster Linie an Herkunft, Stammes- und ethnischer Zugehörigkeit der Kandidaten. Parteien spielen in Afghanistan keine Rolle. Es gibt sie zwar, zur Parlamentswahl treten jedoch nur Einzelpersonen an – meist sind dies Männer und Frauen aus bekannten Familien, mit guten politischen Verbindungen, wirtschaftlichem Einfluss oder auch ehemalige Kriegsherren.

In einer Seitenstraße steht Assadullah, ein bärtiger Endvierziger in einer beigefarbenen Montur. Von seinem hölzernen Verschlag aus bewacht er eine der zahlreichen Gästehäuser, in denen Politiker und andere Prominente Unterkunft finden. Er bekennt freimütig, nicht zur Wahl zu gehen. Die Registrierung, meint er, würde Tage dauern. Um eine Wählerkarte zu erhalten, müsse man mit Beamten verhandeln, vielleicht Backschisch investieren. Im Übrigen hält er es für besser, wenn in Afghanistan gleich eine Regierung der nationalen Einheit gebildet würde, unter Beteiligung der Taliban und anderer aufständischer Gruppen, sodass die ausländischen Truppen abziehen könnten.

Nasir dagegen, Besitzer eines Schuhgeschäfts, hat am Morgen seine Stimme abgegeben. Wen er gewählt hat, will er lieber für sich behalten. Das ist schließlich sein demokratisches Recht. Nur so viel lässt er durchschimmern: „Ich vertraue nur Kandidaten, die einen richtigen Beruf haben, analytischen Köpfen, Männern, die im Ausland gelebt haben und dort ausgebildet wurden, Journalisten etwa.“ Auch Frauen? Er nickt. Kein Problem. „Hauptsache, sie sind gut qualifiziert.“

Und Siddiq, der ehemalige Polizeioberst – wen hat er gewählt? Keinen, sagt er und lässt die Hände mit Aplomb aufs Steuer fallen. Dafür kenne er zu viele wichtige Leute, allein drei Kandidaten stammten aus seinem Bekanntenkreis. „Wenn ich den einen wähle, mache ich mir die anderen zu Feinden, ich bin nicht verrückt. Ich bin lieber zu Hause geblieben.“ Und dann passiert etwas, was sonst nicht passiert. Ein junger Polizist hält Siddiq an und lässt sich von den Namen bekannter Polizeioffiziere nicht beeindrucken. „Ihren Ausweis bitte.“ „Gut!“, ruft der ehemalige Kollege, als er nach der Kontrolle wieder Fahrt aufnimmt. „Endlich mal ein guter Polizist!“

Marc Thörner

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