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Der deutsche Fußballnationalspieler Mesut Özil postete dieses Foto auf seinem Facebook-Profil.

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Pilgerfahrt nach Mekka: Mesut Özil und die ganz große Ökumene

In Deutschland ahnt man noch, was Glaube ist, praktiziert ihn aber kaum. Deshalb fasziniert und irritiert das Foto von Mesut Özils Pilgerfahrt nach Mekka auch so viele Deutsche. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Das gab’s noch nie. Ein 27-jähriger Fußballnationalspieler, geboren in Gelsenkirchen, pilgert als Muslim nach Mekka, lässt sich dort im traditionellen weißen Gewand vor der Kaaba, dem zentralen Heiligtum des Islam, ablichten, veröffentlicht das Foto auf Facebook – und innerhalb weniger Stunden reagieren mehr als eine Million Menschen. Viele sind begeistert, einige meinen, Religion und Sport sollte man auseinanderhalten. Kalt lässt das Bild kaum jemanden. Es fasziniert auf eine fremde, fast exotische Weise. Mesut Özil posiert als frommer, tiefgläubiger Mensch. Das ist ungewohnt, verwirrend, zumal in Deutschland und Europa, dem religiös analphabetisierten alten Kontinent.

Hier ahnt man zwar noch, was Glaube ist, praktiziert ihn aber kaum. Er fühlt sich an wie ein Relikt aus vergangener Zeit. Die Zahl der Konfessionsmitglieder geht seit Jahren zurück, von Gebeten, Liedern und christlichen Ritualen haben sich viele entfremdet. Als Orientierungshilfe in ethischen Fragen gelten die Kirchen längst nicht mehr. Ein Bild wie das von Özil erinnert nun daran, dass der Glaube, global gesehen, die Norm ist, der Nichtglaube dagegen die Abweichung. Deutschland und Europa sind säkulare Inseln in einem Meer der Religiosität. Die Unterscheidungen zwischen öffentlich und privat, schrifttreu und historisch-kritisch, spirituell und aufgeklärt gelten außerhalb des in Europa gepflegten rationalisierten Diskurses über das Wesen der Religion nur sehr eingeschränkt.

Von einer säkularisierten Gesellschaft werden fromme Muslime allenfalls geduldet, nicht aber verstanden

Der Kontrast zwischen der an sich banalen Bekundung seiner muslimischen Frömmigkeit und dem Fehlen jeder Art von christlichem Pendant verstärkt die Irritation, die Özils Mekka-Bild verursacht. Hat man je Angela Merkel beim Abendmahl gesehen? Hat sich Jürgen Klopp je bei einer Karfreitagsprozession fotografieren lassen? Unter Özils Bild könnte, frei nach Klaus Wowereit, die Botschaft stehen: „Ich bin gläubiger Muslim, und das ist auch gut so.“ Vielleicht würde ein etwas weniger verschämtes Auftreten christlicher Personen des öffentlichen Lebens die Irritationen, die von solchen Botschaften ausgehen, abschwächen. Von einer säkularisierten Gesellschaft werden fromme Muslime allenfalls geduldet, nicht aber in ihrem Identitätskern im emphatischen Sinne verstanden. Möglichst unsichtbar und lautlos: So sollte der Glaube nach Meinung vieler Nichtgläubiger sein.

Was diesem Ideal widerspricht, wird als Anmaßung empfunden. In vermeintliche Integrationskonflikte sind daher auch antireligiöse Reflexe gemischt. Das erklärt die Vehemenz, mit der über Kopftücher, Moscheebauten, Gebetsräume oder das Schächten gestritten wird. Eine selbstbewusste Gesellschaft verträgt ein gewisses Maß an religiöser Fremdheit. In jedem Muezzinruf dagegen den Untergang des Abendlandes zu wittern, zeugt von einer labilen Grundverfasstheit.

Insofern überrascht es nicht, dass die in Europa zunehmende Glaubensabgewandtheit die frommen Menschen verschiedener Konfessionen zusammenschweißt. Christen helfen Flüchtlingen aus muslimischen Ländern, Juden und Muslime kämpfen gemeinsam für das religiöse Recht auf Beschneidung ihres männlichen Nachwuchses, alle zusammen schmieden Allianzen gegen Grabschändungen, Brandanschläge und Intoleranz. Das Bild von Özil in Mekka könnte Teil dieser ganz großen Ökumene sein. Anstößig im besten Sinne des Wortes.

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