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Polen: Kaczynskis persönlicher Schmerz und politisches Kalkül

Die schleppende Ursachenforschung zum Flugzeugabsturz im April eröffnet Jaroslaw Kaczynski in Polen ein neues Thema.

„In jedem halbwegs demokratischen Land würde die Regierung zurücktreten und ihre Mitglieder vom Erdboden verschwinden!“, poltert Jaroslaw Kaczynski los. „In Polen kann man nicht von Demokratie sprechen; alles ist nur durchschaubares Blendwerk!“ Endlich hat ihn Polen wieder, den „alten“, aggressiven Oppositionsführer. Kaczynski kritisiert wieder einmal die schleppenden Untersuchungen zur Unfallursache von Smolensk. Noch immer will die Staatsanwaltschaft keine Unfallhypothese ausschließen. Auch vier Monate nach dem Flugzeugabsturz tappt sie im Dunkeln. Für Jaroslaw Kaczynski, der beim Absturz seinen geliebten Zwillingsbruder Lech verloren hat, ist das ein Skandal. Dass die Aufklärung von Flugunfällen nicht nur in Polen und Russland, sondern weltweit eine langwierige Angelegenheit ist, will er nicht zur Kenntnis nehmen. Zum persönlichen Schmerz hat sich beim polnischen Oppositionschef jedoch schon lange politisches Kalkül gesellt.

Die langwierige Unfallabklärung würde Jaroslaw Kaczynski de facto politisch beflügeln, meint Polens erster freier Premierminister Tadeusz Mazowiecki in einem Interview mit dem Nachrichtenmagazin „Polityka“. „Das ist die beste Zeit, um einen Unfallhergang zu propagieren, den später kein Befund mehr ändern kann“, warnt er. Fast täglich sickern in Polen neue Hinweise und Halbwahrheiten durch. Polnische Experten sollen bereits viele unverständliche Stellen des Gesprächsrekorders im Cockpit entschlüsselt haben. Noch immer wartet die polnische Staatsanwaltschaft auf die russische Antwort auf mehrere Rechtshilfebegehren. Vor den Lokalwahlen im Herbst jedoch sollen laut polnischem Zeitplan die Untersuchungen abgeschlossen sein. Der zuständige Staatsanwalt Seremet hat für Anfang Oktober die erneute Publikation der Cockpit-Gespräche angeregt.

Hat das Flugzeugunglück im April ganz Polen in Trauer vereint, so polarisiert die schleppende Ursachenforschung inzwischen die Polen immer mehr. Eine schlechte Öffentlichkeitsarbeit der polnischen Staatsanwaltschaft hat meist politisch motivierten Spekulationen Tür und Tor geöffnet. Jaroslaw Kaczynski nutzt dies seit dem Ende der Präsidentschaftswahlen von Anfang Juni gekonnt aus. Hatte er sich in der Wahlkampagne noch als kompromissbereiter Schlichter dargestellt und dem „polnisch-polnischen Krieg“ seines verstorbenen Zwillingsbruders abgeschworen, so sind seine Attacken heute schärfer als je zuvor.

Zu Hilfe kommen ihm dabei radikale, ultrakatholische Anhänger, die seit Wochen ein zu Ehren der Absturzopfer vor dem Präsidentenpalast errichtetes Holzkreuz verteidigen. Sie genießen inzwischen die offene Unterstützung Kaczynskis. Wenn der gewählte Präsident Bronislaw Komorowski das Kreuz wegschaffe, ohne an dessen Stelle ein Denkmal zu errichten, werde er öffentlich machen, wer der Präsident wirklich sei, sagt Kaczynski. Der Oppositionsführer deutet damit auf eine Reihe von Verschwörungstheorien hin, die Komorowski als russischen Agenten, als Juden, jedenfalls als Nichtpolen sehen.

Bei dem Absturz handelt es sich demnach um eine Verschwörung zwischen dem polnischen Ministerpräsidenten Donald Tusk und seinem russischen Amtskollegen Wladimir Putin, um Lech Kaczynski – den „letzten Präsidenten des unabhängigen Polen“, wie es unter den Kreuz-Verteidigern heißt – loszuwerden.

Komorowski, der die Präsidentschaftswahlen mit 52,5 Stimmenprozent gegen Jaroslaw Kaczynski gewonnen hat, ist demnach ein Usurpator. Manche der rechtsradikalen Kaczynski-Anhänger sprechen von Wahlfälschung. Jaroslaw Kaczynski selbst geht bisher nicht so weit, er hält die explosive Verschwörungsstimmung aber am Kochen.

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