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Politik: Polen

Agnieszka Drotkiewicz,Generation 25In den Zukunftsvorstellungen interessiert mich am meisten das, was mit der Gegenwart zusammenhängt. Wie der andere Mensch unser Spiegelbild ist, so bilden die Zukunftsvorstellungen immer eine Gegenwartsprojektion.

Agnieszka Drotkiewicz,
Generation 25

In den Zukunftsvorstellungen interessiert mich am meisten das, was mit der Gegenwart zusammenhängt. Wie der andere Mensch unser Spiegelbild ist, so bilden die Zukunftsvorstellungen immer eine Gegenwartsprojektion. Der Rest ist nur Dekoration: so wie die Glitzerfolie oder eine gepuderte Perücke. Dennoch sollte man die Dekoration nicht verachten. Ohne sie könnten wir wahrscheinlich nicht über die Gegenwart sprechen, ohne Gefahr zu laufen, sich konjunkturale Publizistik vorwerfen zu lassen. Ohne die opernartigen Dekorationen wäre Stanley Kubricks "Uhrwerk Orange" aus dem Jahre 1971 drastisch inadäquat. Ohne die Opernstilisierung wäre die Aufführung von "Giovanni" nach Motiven der Mozart-Oper und des Molière-Dramas (in der Regie von Grzegorz Jarzyna, aufgeführt im Teatr Wielki in Warschau im September 2006), bedauernswert naiv. Von Naivität kann hier jedoch nicht die Rede sein. Die Dekoration, die Stilisierung, die aus zeitlicher Unstimmigkeit resultierende Übertreibung erlauben, das Augenblickliche zu verbergen und das Universelle zu unterstreichen. Bei Kubrick ist es die Anatomie der menschlichen Destruktivität, bei Jarzyna dagegender Hunger und die Leere, die den Menschen verzehren. Sowohl das eine, als auch das andere, ist meines Erachtens sehr charakteristisch für das heutige Europa.

Die Zukunftsvorstellungen schwanken meist zwischen Utopie und Gegenutopie. Die Utopien wurden durch den harten und weichen Totalitarismus kompromittiert. Der Utopie ziehe ich die Warnung Michel Houellebecqs in "Die Möglichkeit einer Insel" vor: In ihrer Furcht vor jeglicher Abhängigkeit isolieren sich die Menschen gänzlich von der Welt und voneinander. Eine Warnung ist ehrlicher.

Zofia Nalkowska, eine polnische Schriftstellerin, war nur zweiJahre jünger als ich; sie war 23 Jahre alt, als sie vor genau einhundert Jahren, im Jahre 1907, auf einer Frauentagung postulierte: "Wir wollen das volle Leben!"

Don Giovanni aus Jarzynas Aufführung wiederholt: "Ich habe Hunger" und stirbt, während er sich vor Völlerei übergibt. Wir wollen das volle Leben. Doch das volle Leben ist nicht nur die Narration von Michel Houellebecq, es besteht nicht nur aus Perlenketten und einer ewigen Unersättlichkeit. Es ist auch die Hand, die ein Blinder einem Gehbehinderten reicht. Dieser Gedanke kam während der Lektüre von John Maxwell Coetzees "Zeitlupe" über mich. Laut Edgar Morin entwickelte sich Europa durch eine Selbstverneinung. Bei Coetzee taucht die Frage auf, ob ein Blinder einen Gehbehinderten führen könnte. Dabei geht es keineswegs um die Befürwortung des Mittelmäßigen, sondern vielmehr um die Heldentat, um die Energie und die Entschlossenheit dazu, trotz der durchgemachten Traumata weiter zu leben und das uns Gegebene bestmöglich zu nutzen. In der Hand des Blinden, dem Gehbehinderten entgegen gestreckt, sehe ich eine Art Lösung, eine Art Versprechung für die Zukunft.

Die Autorin, Jahrgang 1981, ist Schriftstellerin, Literaturkritikerin und Journalistin. Übersetzt aus dem Polnischen von Anna Janaszkiewicz.

Magdalena Baur,
Generation 50

"Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung."(Robert Schuman 1950) Prägend für uns mittlere Generation - gerade für Europäer mit Migrationshintergrund - ist das Ende der autoritären Systeme in vielen Teilen Europas, das Erleben des Aufbruchs von Kaltem Krieg und Unterdrückung der Menschen im Osten, hin zu Freiheit und Frieden.

Somit geht es nun um neue Ideen, die Prioritäten für die Zukunft, die Ziele für die Jugend von heute - um die Stärkung europäischer Werte. Das intellektuelle Wissen um gemeinsame Geschichte und Institutionen bleibt leere Formel ohne inneres Bewusstsein für das Verbindende in den Grundlagen unserer europäischen Kultur, auf denen die Individualität der Völker und Regionen sich in Frieden und Freiheit entfalten kann. Eine herausragende Idee für Bildung und Erziehung ist die Gründung von Europa-FELS. Bildung ist die Brücke zwischen den Nationen im Kopf und im Herzen - getragen von Eltern, Lehrern, Schülern und allen anderen daran Beteiligten. Sie ist die Basis für ein tolerantes und verständnisvolles Miteinander in Europa - gerade angesichts zunehmender Mobilität auch zwischen den Ländern der EU. Das europäische Netzwerk Europa-FELS zeigt Wege zu diesem Ziel. Menschen aus mittlerweile 15 Nationen arbeiten ehrenamtlich mit - in internationalen Projekten, Partnerschaften, und Fortbildungslehrgängen. Als Multiplikatoren tragen sie die Erkenntnisse in Schulen, Pädagogische Institute, Universitäten und weitere Bildungseinrichtungen. Diese Begegnungen leisten einen Beitrag für eine gemeinsame Werteorientierung.

Die Autorin, Jahrgang 1952, ist Lehrerin und Präsidentin des "Europa-FELS e.V".


Bronislaw Geremek, Generation 75

Zu den Erfahrungen meines 75-jährigen Lebens gehört die Erfahrung des Zweiten Weltkrieges, des schrecklichsten Totalkrieges in der Geschichte des europäischen Kontinents, sowie die Erfahrung zweier totalitärer Systeme: des Nationalsozialismus und des Kommunismus, deren Ideologie und Praxis in Europa geboren wurden. Europa war dennoch meine Hoffnung: als Zivilisation, als Wiege von Literatur und Kunst, in seiner Lebensart und als Welt der humanistischen Werte. Ich lebte in einem geteilten Europa, doch in dem Einigungsprozess sah ich die Chance auf die Erfüllung meiner Träume. Die Kraft des gesellschaftlichen Widerstandes und die Weisheit des Handelns der mitteleuropäischen Völker, die dem Beispiel der polnischen „Solidarnosc“ folgten, führten zum Fall der Berliner Mauer, zur Wiedervereinigung Deutschlands und zur Einigung Europas. Erst zu diesem Zeitpunkt, nach 1989, verspürte ich das Gefühl des Lebens in Frieden und in Achtung der menschlichen Würde; erst dann wurde Europa zu meiner zweiten Heimat. Der antike griechische Schriftsteller Isokrates schrieb, die Griechen seien nicht durch ihre Herkunft, sondern durch ihre Erziehung und Bildung verbunden. Ich wünsche mir, dass die Europäer künftig dasselbe von sich behaupten können.

Der Autor, Jahrgang 1932, ist einer der bekanntesten polnischen Historiker und erhielt bislang mehr als 20 Ehrendoktortitel. Als aktiver Politiker war er unter anderem von 1997 bis 2000 Außenminister Polens. Seit 2004 ist er Europa-Abgeordneter am Europäischen Parlament.Übersetzt aus dem Polnischen von Anna Janaszkiewicz.

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