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Politik: Politik ist mehr als eine Dienstleistung, Demokratie mehr als Demoskopie

Ja, ihr Ökonomisten aller Länder, vereinigt euch! Dann wissen wir endlich, woran wir sind, wie viele ihr seid.

Ja, ihr Ökonomisten aller Länder, vereinigt euch! Dann wissen wir endlich, woran wir sind, wie viele ihr seid. Die Marktradikalen, die an die Selbstregulierungskräfte glauben, die die Selbstabdankung der Politik fordern, haben viele Stimmen - aber die Mehrheit, die bekommen sie nicht.

Nein, die Politik ist nicht am Ende, sie muss nur den Mut haben, wieder anzufangen. Sie hat nicht schnell genug dereguliert. Darum erleben wir jetzt eine in unserer Republik beispiellose Deregulierung von unten: Steuerflucht, Minijobs, Ladenschluss. Legal, illegal, scheißegal. Der Staat hat nur noch zu notifizieren, was ohnehin geschieht, fordern jetzt die ganz Liberalen. Sowas ist, in aller Freundschaft, in unserer Verfassung nicht vorgesehen. Die hält mehr auf sich.

Wer betrachtet Politik nur noch als Anpassung an die Macht der Finanzmärkte? Wer sagt, dass der Staat nicht mehr ordnen soll, sondern nur Erfüllungsgehilfe ist, der Infrastruktur anzubieten hat und sonst gefälligst nichts? Wer? Die modernen Ökonomisten, die Avantgarde jener Konsumenten, die zu lange am Wühltisch gestanden haben.

Politik für eine ganze Gesellschaft ist nicht bloß Sache einer Web-Seite in den Firmenzentralen. Moderne ist kein Produkt, das am Computer zu bestellen ist, der Staat kein Servicebetrieb für die Wirtschaft. Im Staat sammelt sich Gemeinschaft, und die funktioniert nicht nur nach Kosten-Nutzen-Faktoren. Kein Mensch ist sich selbst genug. Wir nehmen einander doch in Anspruch für diese oder jene Hilfeleistung, seit jeher. Wir haben einander nötig, schon immer. Der Staat ist damit aber nicht nur die Summe von Individuen, die dann nur ihre Individualität leben. Der Staat, das sind wir, das ist zur Struktur gewordener Mehrheitswille, der notwendigerweise immer im Spannungsverhältnis zu unseren wechselhaften Wünschen steht.

Der Staat ist kein fremder Leviathan, nicht bloß ein Über-Ich, sondern ein Gefüge, das - durch Wahlen aktualisiert und erneuert - unser Zusammenleben ermöglicht. Er ist unser Gefüge, das gesellschaftliche Akte in letzter Instanz ordnet; das Gesetze als öffentliches Gewissen der Bürger formuliert; das Recht und Moral zu einer Einheit verbindet in der höchsten allgemeinen Form. Staat ist Gemeinschaft, die Gemeinschaft aller Gemeinschaften. Und Gemeinschaft ist die Voraussetzung für Individualität.

Wir aber brauchen in Deutschland nicht noch mehr Ungleichheit: Erst Politik sozialisiert die Marktkräfte. Erst sie schafft die nötigen Rahmenbedingungen, in denen sich Wettbewerb entfalten kann. Politik muss also steuern - ja, und erneuern. Das ist ein Anspruch in doppelter Hinsicht: Die Veränderungen in der Gemeinschaft müssen erkannt und bedacht werden. Aber sie müssen eben auch zunächst bedacht werden dürfen, um danach in neuen Gesetzen formuliert zu werden - wenn eine Mehrheit, in vielen, wohl bedachten Fällen auch eine Zwei-Drittel-Mehrheit, so entscheidet.

Daraus erklärt sich die Zeitspanne, die zwischen Erkenntnis und Veränderung, zwischen Lobbywunsch und Gesetzeswirklichkeit liegt. In dieser Spanne kann sich eine Gesellschaft, muss sich die Politik vergewissern, was denn die Nebenfolgen von Sonntagsstimmungen und Abstimmungen mit den Füßen sind. Beim Ladenschluss, zum Beispiel, tritt der Bürger in zwiespältiger Funktion auf: als Kunde und als Arbeitnehmer. Was der Kunde als Freiheit wünscht, kann ihm im nächsten Moment in der Gestalt des Zwangs wieder gegenübertreten, in der Familie, im Beruf. Und so erklärt sich, dass nicht schon Hunderte oder Tausende, die irgendwohin laufen, über Veränderung entscheiden, sondern eine Mehrheit, die Zeit hatte, ihre Wahl zu treffen.

Ob Sonntagsverkauf oder Sonntagsfrage: Nur weil Bedingungen sich ändern, ist noch nicht der ganze Gesellschaftsvertrag hinfällig. Er muss nur geändert werden. Dafür ist Politik nötig - denn sie schafft die demokratische Teilhabe. Das, ihr Ökonomisten, ist der eigentliche Wert, der wichtigste Stakeholder-Value.

Der Kommentar ist ein Beitrag zur Diskussion über Staat und Deregulierung, die am Sonnabend, den 21. August von Ursula Weidenfeld begonnen wurde.

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