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Die Bürger von Schilda sind die Schildbürger, weil sie gerne Schilder hoch halten.

© AFP

Politische Partizipation in Deutschland: Pegida - von oben betrachtet

Ob S 21, Occupy, Plebiszite, TTIP-Protest, E-Aktivismus, Pegida: Mehr politische Partizipation war selten in Deutschland. Allerdings ist sie oft sprunghaft, spontan, projektzentriert und von Empörung getragen. Ein Kommentar.

Ein Kommentar von Malte Lehming

Nun also Leipzig, Heldenstadt, Revolutionsstadt. Historisch aufgeladen. Und das alles vor dem Hintergrund eines monströsen Eingriffs in die Meinungs- und Versammlungsfreiheit – der Verhängung eines ganztägigen Demonstrationsverbotes über eine deutsche Großstadt, Dresden. Aus Pegida ward Legida. Unmittelbar zuvor war der selbsternannte Pegida-Chef Lutz Bachmann zurückgetreten, weil er als Hitler posiert hatte. Das aber rührte nicht nur bei Prinz Harry an ein Stück unverarbeiteter Geschichte.

Kein Zweifel: Die Debatte über das Phänomen wird anhalten. Und sie wird beherrscht bleiben von der politisch-moralischen Bewertung des in seinen Motiven immer noch ziemlich diffusen Protestes. In der notwendigen Auseinandersetzung darüber vergewissert sich eine Gesellschaft ihres eigenen Charakters. Wie lassen sich Religion und Rechtsstaat, Asyl und Einwanderung in ein offenes, tolerantes, identitätsbewahrendes Verhältnis bringen? Darum geht es.

Wer aber diesen Rahmen einmal kurz verlässt und eine Vogelperspektive einnimmt, stellt fest: Mehr politische Partizipation jenseits der traditionellen, repräsentativen Ausdrucksformen (Wahlen, Parteien, Gewerkschaften) war selten. Diese Entwicklung fängt beileibe nicht mit Pegida an. Die Stichworte heißen „Stuttgart 21“, Occupy, TTIP-Protest, Piraten, AfD. Und gerade auch in Berlin hat die Zahl der Plebiszite sprunghaft zugenommen – Flughafen Tempelhof, Religionsunterricht, Energietisch, Wassertisch, Tempelhofer Feld. Das Sich-Einmischen in politische Entscheidungsprozesse, das Begreifen von Demokratie nicht nur als Staats-, sondern auch als Mitmachform hat Konjunktur.

Online-Petitionen sind so einfach wie beliebt

Dabei ist das Gesamtbild verwirrend. Einerseits die stetig nachlassende Wahlbeteiligung, weniger Parteimitgliedschaften, abnehmendes Vertrauen in Politik bis hin zum Politikverdruss. Andererseits die oft sprunghafte, spontane, projektzentrierte, intensive und nicht selten von Empörung getragene Beteiligung an Politik durch vielfältige Aktionen. Dazu gehören auch Internet und soziale Medien. Mehr als tausend Freiwillige beteiligten sich auf „GuttenPlag Wiki“, der „kollaborativen Plagiatsdokumentation“, an der Überprüfung der Dissertation des ehemaligen Verteidigungsministers. Online-Petitionen sind so einfach wie beliebt geworden. Über Twitter und auf „abgeordnetenwatch.de“ können Bürger in direkten Kontakt zu politischen Repräsentanten treten.

Verwirrend ist auch Pegida. Der Hass aufs Establishment, auf die Elite, die Parteien, die traditionellen Medien ist zumindest insoweit systemimmanent, als dass er sich friedlich auf der Straße artikuliert. Inzwischen haben die Organisatoren mit dem Schweigegelöbnis gegenüber der Öffentlichkeit gebrochen, sie gehen in Talkshows, halten Pressekonferenzen ab. Nun gilt es auszuloten, was die Menschen wirklich bewegt, welche ihrer Forderungen im Rahmen unserer verfassten Grundordnung sind und welche womöglich nicht.

Politische Partizipation, verstanden als freiwillige Tätigkeit von Bürgern mit dem Ziel, den politischen Diskurs und/oder politische Entscheidungen zu beeinflussen, ist längst zum Gradmesser für das Funktionieren einer lebendigen Demokratie geworden. An Pegida stößt vieles ab. Wer aber seine Ablehnung des Phänomens über die Neugier stellt, es verstehen zu wollen, verharrt in einer spiegelbildlichen Hyperventilation.

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