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Position: Die Schönheit der Politik

Trotz Schimpf und Schande, Feigheit und Blässe: Wer Politiker verachtet, verkennt ihre wahre Größe.

Sonntags wird gern groß geredet, darüber, wie wichtig die Politik ist, eine Bürgerpflicht geradezu, Spielfeld des Gemeinwohls. Helfen tut das nicht - weder gegen Politikverdrossenheit noch gegen die wachsende Fremdheit zwischen Politikern und Bürgern, denen schon der pädagogische Impetus, das Fibelhafte solcher Sonntagsreden gegen den Strich geht. Dabei ist Politik durchaus nicht nur eine Notwendigkeit, sie ist auch schön, sogar cool, wenn man so will. Und wenn man nicht verlernt hat hinzuschauen oder die routinierte Abscheu den Blick verengt. Darum soll es hier gehen, den Blick frei zu machen auf die nicht hässliche Seite der Politik.

Politik und Schönheit? Gibt es da überhaupt irgendeinen Zusammenhang? Oder schließen sie einander nicht vielmehr aus wie Merkel und Mode, wie Beck und Beckett?

Niemand wird ernstlich bestreiten, dass es viele schöne Momente in der Politik gegeben hat. Der Fall der Mauer, natürlich. Auch der Kniefall von Willy Brandt vor dem Ehrenmal des jüdischen Ghettos in Warschau 1970 fällt einem sofort ein, mit dem sich Deutschland zu seiner Schuld bekannte und zu sich selbst kam. John F. Kennedy oder später Ronald Reagan, die beiden US-Präsidenten, die Berlin ihre Solidarität versicherten, als die Stadt noch geteilt war. Vielleicht noch tiefer berührend das gescheiterte Misstrauensvotum gegen den Kanzler Brandt von 1972, als er entkräftet und würdig die Glückwünsche von Rainer Barzel, seinem Herausforderer, entgegennahm. Die Befreiung der Geiseln aus der entführten Lufthansa-Maschine Landshut 1977 und die spätere Umarmung des spröden Helmut Schmidt mit der tapferen Stewardess.

Oder, in kleinerer Münze: der erste Einzug der Grünen in den Bundestag. Mit großem Plastikglobus und dürren Tannenzweigen kehrte da, 1983, eine fast schon verlorene Generation in die Gesellschaft zurück. Noch der Sieg von Gerhard Schröder und Joschka Fischer im Jahre 1998 war von einigem Reiz; kurz bevor sie zu alt waren, kamen sie an die Macht. Man könnte diese Liste lange fortsetzen, bis tief in die Vergangenheit und bis ganz nah an die Gegenwart heran. Und doch würde dadurch das erste Paradox der Politikverachtung nur weiter verschärft, nach der es zwar schöne politische Momente geben kann, aber diese ganz gewiss nur inmitten hässlicher Politik und Politiker.

Herausragende Politikverachtung

Hören wir zwei prominente zeitgenössische Stimmen, von einem Sänger und einem Dichter: "Ich halte es für völlig überflüssig, mit Politikern zu reden. Wir wollen uns nicht mit Politikern gemeinmachen. Ich traue Politikern nicht. Ihre Sprache tut mir weh." Derart angewidert äußerte sich der Sänger Herbert Grönemeyer in einem Interview, das er anlässlich des G-8-Gipfels in Heiligendamm gab. Eigentlich, so denkt man, ist der doch ganz klug in seinen Liedtexten. Weiß er nicht, dass Politiker in der Demokratie so handeln müssen, wie es der Mehrheit mutmaßlich gefällt? Ahnt er nicht, dass sein zur Schau getragener Politiker-Ekel demokratieverdrossen macht? Merkt er denn gar nicht, dass er die vielen Tausend "kleinen" Landes- und Kommunalpolitiker mitbeleidigt, ohne die in diesem Land gar nichts laufen würde? Vielleicht muss er all das nicht berücksichtigen, er ist schließlich Künstler, er darf seinen persönlichen Geschmack zum Maßstab erheben, auch seinen schlechten Geschmack.

Doch einer der führenden deutschen Intellektuellen redet ganz ähnlich. In einer Philippika begründet er, warum er sich "mit Grausen abwendet". Er beklagt "das durchdringende Gefühl der Peinlichkeit. Schließlich leben wir in demokratischen Gesellschaften, und das heißt, dass wir die Leute, die uns regieren, selber gewählt haben. Deshalb führt jeder demagogische Bluff, jedes dilettantische Manöver, jede durchsichtige Mogelei, die sie sich leisten, dazu, dass wir uns genieren." So schrieb Hans Magnus Enzensberger im Juni 2005.

Offensichtlich - und das ist das zweite Paradox der herrschenden Politikverachtung - hat sich der Denker hier eine schlichte Frage nicht gestellt: Wie kann es sein, dass ein alles in allem doch recht schönes, freies, reiches, tolerantes, sympathisches Land, das seine Probleme hat, aber weit weniger als andere, wie kann es sein, dass ein solches Land seit Jahr und Tag von mediokren, feigen, machtsüchtigen, sprachbehinderten, bürokratischen Politikern regiert wird? Gar nicht. Irgendwie muss doch der ansprechende Zustand des Landes mit der Politik zu tun haben, zumindest weitläufig.

Nur noch drei Themen sind groß: Das Wetter, der Fußball und die Politik

Immer wieder wird auf gut dotierten Podien die etwas melodramatische Frage gestellt, was eine so zerklüftete Gesellschaft wie unsere noch zusammenhalte. Die wichtigste Antwort darauf lautet: Das große Selbstgespräch über Dinge, von denen die meisten ein bisschen verstehen und für die sie sich über den individuellen Wirkungskreis hinaus interessieren. Ins öffentliche Gespräch verwickelt zu sein, das kann, zugespitzt gesagt, eine Frage von Krieg oder Frieden sein. Von jenen übergreifenden Themen gibt es nur noch drei: das Wetter, den Fußball und die Politik. Alles andere ist nur kurzfristig für Mehrheiten oder dauerhaft für immer kleinere Minderheiten von Belang.

Dabei nimmt sich allein die Politik das große Ganze vor, verfehlt es meist, trifft aber auch ab und an. Schöne Momente. Und noch eines unterscheidet die Politik von den beiden anderen Themen fundamental: Alle, die mitreden, können auch mitbestimmen, zumindest durch Wahlen. Und am Ende allen Redens und Meinens steht nicht einfach nur neues Reden und Meinen, sondern Handeln. Wie vermittelt und verspätet auch immer: Politik ist Reden mit Folgen, für viele, oft für alle. Das markiert den Unterschied zwischen Gerede und Gespräch, zwischen Fußball und Politik. Die hat insofern eigene Würde, ja, unter all den Intrigen und Langweiligkeiten des politischen Alltags liegt etwas wie Erhabenheit.

Und sind geistige Fortschritte, sind gelungene Lernprozesse ohne Anmut überhaupt vorstellbar? Moderne Demokratien haben nur die Politik, um sich über ein paar fundamentale Fragen zu einigen. Und das nicht nur, wenn eine Verfassung vereinbart wird. Auch wenn sich die Umstände, unter denen eine Gesellschaft lebt, dramatisch verändern. Das jüngste Beispiel ist hier die viel gescholtene Agenda 2010. Ganz abgesehen davon, was die einzelnen Maßnahmen operativ gebracht haben - im Streit darüber hat sich dieses Land darauf geeinigt, dass die Nachkriegszeit vorbei ist, dass die Phase des scheinbar automatischen Wohlstandswachstums zu Ende geht und dass man sich mehr wird anstrengen müssen. Was genau daraus folgt, darüber herrscht - wie es sich gehört - tagespolitischer Dissens, über die zugrunde liegende neue Lage nicht mehr. Man kann sicher nicht behaupten, dass dieser politische Lernprozess in jeder Phase schön war, auf der anderen Seite wird man ihm eine gewisse Anmut im Nachhinein nicht absprechen können. In diesem Fall handelte es sich wohl um die Schönheit des demokratischen Systems. Denn das war kein Erfolg eines einzelnen Politikers, keiner konnte diesen Sieg nach Hause tragen, eher wirkten alle wie Verlierer. Der dennoch erzielte kollektive Erkenntnisgewinn verdankt sich der Art und Weise, wie diese Demokratie trotz aller Mängel gebaut ist: In ihr kann ein Volk sich unterhalten und ein Ergebnis erzielen, es kann sich ändern, sogar zum Besseren.

Vom Selbsthass zur Selbstversöhnung

Das mag schon alles wahr sein, werden die Älteren unter den Verächtern der Politik einwenden, aber man schaue sich nur dieses Personal an! Wohl wahr! Die Politikergesichter sind nicht mehr vom scharfen Meißel der Geschichte gehämmert. In ihnen spiegeln sich speckig die Jahrzehnte des Friedens und des Wohlstands. Unsere Politiker sind vorsichtig, sie wollen sich nicht festlegen, sie halten sich alle Optionen bis zuletzt offen, sie sind lau, ihre Hände tragen keine Schwielen und ihre Seelen vermutlich auch nicht. Ja, das muss man ihnen wirklich vorwerfen: Diese Politiker sind praktisch genauso wie wir. Und wir sind natürlich nicht schön, oder?

Nur, stimmt die Rede von den uncharismatischen Politikern überhaupt, wenn man sie nicht immerzu mit den von Krieg und Kaltem Krieg gestählten und entstellten Männern vergleicht? Wolfgang Schäuble, Joschka Fischer, Franz Müntefering, Gerhard Schröder, auch Edmund Stoiber oder Ursula von der Leyen - sind das nicht bewegende, tragische, ironische, schöne Lebens- und Politikgeschichten? Und was die historische Prägung angeht: Wenn es stimmt, dass wir in einer Wendezeit von leichteren zu schwereren Zeiten leben, dann werden diese Politiker, dann wird dieses Land von der Zukunft möglicherweise mehr gegerbt als von der Vergangenheit.

Leicht lässt sich in der Verachtung für die Politiker der typische deutsche Selbsthass entdecken. Wir mögen sie nicht, weil wir uns nicht mögen. Doch könnte es sich hier um eine bloße Phasenverschiebung handeln. Denn die Deutschen können sich nach Jahren der Selbstbezichtigung von links (wir sind gefährlich) und von rechts (wir sind faul) mittlerweile recht gut leiden, so gut, dass diese Selbstversöhnung über kurz oder lang sogar auf die Politik abfärben und das Publikum für deren schöne Seiten empfänglicher machen dürfte.

Ohnehin spricht vieles dafür, dass die Baisse des politischen Eros vorübergehen könnte, wenn inszenierte und operative Macht nicht mehr so sehr auseinanderfallen. Die Politiker, mit denen sich die Bürger allenfalls identifizieren können, von denen sie wissen, wer da spricht und handelt, das sind die nationalen Akteure. Die reale Politik hingegen internationalisiert sich in hohem Tempo. Dadurch bekommt die politische Berichterstattung oft etwas Irreales, Attrappenhaftes. Noch.

Zwei kleine Machos an der Spitze zu kurz gekommener Großnationen

Mehr und mehr führen die häufigen internationalen Gipfeltreffen dazu, dass ausländische Akteure für das deutsche Publikum Kontur und Charakter bekommen. Wer Nicolas Sarkozy und Wladimir Putin in Heiligendamm nebeneinander sieht, der versteht sogleich: Diese beiden kleinen Machos an der Spitze zu kurz gekommener Großnationen würden sich auch für eine böse Novelle gut eignen. Zudem gewinnt die Politik auf internationaler Ebene etwas zurück, was in den komplexen Entscheidungsprozessen der Hauptstädte oft vermisst wird. Dass zwei oder drei Mächtige zusammensitzen, mit einem Stift in der Hand, und eine Entscheidung treffen, die dann auch gilt - das ist Politik wie im Kino. Und doch wahr.

Auf der internationalen Bühne spielten sich in diesem Jahr auch die schönen Momente der Kanzlerin ab. Ihre Geschichte ist zurzeit eine des Gelingens, in ihr rundet sich ein Leben in Deutschland. Gar nicht so sehr, weil eine Frau und Ostdeutsche Kanzlerin wurde.

Wirklich schön an ihrer Laufbahn scheint etwas anderes. Unter Helmut Kohl hat sie ihr politisches Handwerk gelernt. Dazu gehörte die Lehre, sich möglichst nicht festzulegen und sich stattdessen zum siegreichen Moderator zu erklären, egal, was in der Sache rausgekommen ist. Wer jedoch ganz nach oben will, dem kann eine politische Öffentlichkeit Vagheit nicht durchgehen lassen. So nahm der Druck auf sie, sich mit Inhalten zu verbrüdern, immer mehr zu. Nolens volens wurde aus der ehemaligen Umweltministerin als Kanzlerin eine partielle grüne Überzeugungstäterin - und genau damit hatte sie international Erfolg. Eine politische Linie entstand, und sei es eine spiralförmige, etwas ging auf, das ebenso gut hätte verschütt gehen können. Und das alles nicht, weil sie es sich so vorgenommen hatte, sondern weil ihr Haltung abverlangt wurde.

Über Schönheit, über politische zumal, lässt sich streiten. Zweierlei kann man gleichwohl darüber sagen: Politische Schönheit entsteht in der Demokratie kaum je allein aus einer Person. Und sie hat immer einen Makel: Das Misstrauensvotum von 1972 wurde durch den An- und Verkauf von Abgeordneten abgewehrt. Die deutsche Einheit wurde vom Westen gar nicht so sehr gewollt und vom Osten - auch - aus Gier so sehr. Und mit den Grünen zogen 1983 viele Rote in den Bundestag, auch Antidemokraten und einige Stasi-Spitzel. Die Schönheit der Politik ist die des Bernsteins: Eine Mücke ist immer darin eingeschlossen.

Das hat mit der dunklen Seite zu tun. In einem unterscheidet sich die Politik von allen anderen Sphären: In der Wirtschaft braucht man Macht, um Geld zu verdienen, in den Medien, um bemerkt zu werden - nur in der Politik braucht man Macht um ihrer selbst willen. Doch ohne dieses archaische und gefährliche Moment könnte sie die Menschen nicht in ihren Bann ziehen.

Nicht hässlicher machen also nötig

Wer plump denkt, glaubt darum, immer nur nachweisen zu müssen, dass in der Politik unter allen Motiven der Akteure das niedrigste Motiv den Ausschlag gibt. Damit jedoch wird die Politik verhässlicht, und es wird - was schlimmer ist - allzu leicht der Moment verpasst, wo es wirklich gefährlich wird, dann nämlich, wenn die pure Macht sich aus der Verankerung zu lösen droht.

Eines noch, etwas spezifisch Deutsches, schwächt zurzeit das Interesse an Politik. Die Deutschen wurden nach dem Zweiten Weltkrieg ganz zu Recht als Freigänger der Weltgeschichte betrachtet. In der Reeducation wurde ihnen eingebimst, dass sie sich gefälligst als neue demokratische Bürger für Politik zu interessieren und mindestens eine Zeitung zu lesen sowie die Tagesschau anzuschauen hätten. Was nicht zuletzt zu einer weltweit beispiellosen Dichte an Qualitätszeitungen geführt hat. Mittlerweile fühlt sich indes kaum noch jemand verpflichtet, sich für Politik zu interessieren. Wir treten in die Phase der völligen Freiwilligkeit ein. Das führt erst mal zu einer Delle im Politikinteresse. Das kann aber auch bald dazu führen, dass der anspruchsvoller gewordene Bürger mit besserer Politik und noch besseren Zeitungen bedient wird. Die Schönheit der Politik liegt im Auge des Betrachters.

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