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Präsident Obama: Wunder sind möglich

„They said this day would never come.“ Diesen Satz sagte Barack Obama am 3. Januar 2008. Jetzt ist der Tag da. 232 Jahre nach dem Versprechen, dass alle Amerikaner dieselben Rechte haben sollen, ist ein Schwarzer Präsident der USA.

Die Tränen fließen, und die Menschen springen auf und nieder und schreien ihre Freude laut heraus. Andere liegen sich stumm in den Armen oder wiegen ihre Körper wie in Trance. „Unbelievable“, unglaublich, stammelt ein Schwarzer immer wieder. Die Worte fehlen in solchen Momenten, aber die Ausdrucksformen menschlicher Freude und Befreiung sind nahezu grenzenlos – wie fast auf den Tag vor 19 Jahren an einem Novemberabend in Deutschland, als die meisten mit feuchten Augen nur noch „Wahnsinn, Wahnsinn“ murmeln konnten.

Es ist 22 Uhr am Dienstagabend in Chicago, Barack Obamas Heimatstadt. Mehr als hunderttausend Menschen haben sich im Grant Park versammelt. Die Fernsehsender verbreiten die Hochrechnungen aus den westlichen Bundesstaaten der USA, und sie heben Obama über die Hürde der mindestens 270 Wahlmännerstimmen, die für den Einzug ins Weiße Haus nötig sind.

Auch hier ist eine Mauer gefallen. Zum ersten Mal in der Geschichte der USA haben die Bürger einen Afroamerikaner zum Präsidenten gewählt – 232 Jahre nach dem Versprechen der Unabhängigkeitserklärung, dass alle Menschen dieselben Rechte haben sollen, gut 40 nach Ende der Rassentrennung und der politischen Gleichberechtigung. Und sie haben es nicht zögerlich, mit halbem Herzen getan, sondern, das zeichnet sich im Laufe des Wahlabends ab, sie stellen sich mit breiter Mehrheit hinter ihren 44. Präsidenten, auch wenn der ein bisschen anders aussieht als seine weißen Vorgänger.

„They said this day would never come“: Der Anfangssatz der Rede, mit der Obama am 3. Januar in Iowa seinen ersten großen Wahlsieg auf dem Weg ins Weiße Haus feierte, ist zum Grundmotiv seiner Kampagne geworden: Wunder sind möglich. Das ganze Pathos des historischen Umbruchs klingt darin an – etwas Überfälliges wird endlich Realität. Viele in den USA haben die Worte noch in den Ohren. Und, mehr noch, den Tonfall, diese Mischung aus Überraschung und Erfüllung.

Und was wird er jetzt sagen, wo er am Ziel ist?

Noch fast eine Stunde lässt der „President elect“ die Menge im Grant Park und die vielen Millionen an den Fernsehgeräten warten. Denn zuvor spricht der Unterlegene zur Nation, so ist es Brauch. John McCain hat den Abend zu Hause in Arizona verbracht. Bis zuletzt hatte er seinen Anhängern eine überraschende Wendung versprochen, obwohl die Umfragen seit Wochen einen Obama-Sieg prognostiziert haben. Bei zweifelnden Fragen der Medien hatten seine Strategen auf jene Staaten verwiesen, in denen es besonders viele weiße Arbeiter gibt. Die leiden unter der Wirtschaftskrise besonders. Sie sagten, in Pennsylvania, Ohio, Indiana werde Obama mit Skepsis betrachtet, das hätten schon die Vorwahlen gezeigt, als Hillary Clinton Obama dort besiegt hat. Und Florida, den Schlüsselstaat bei George W. Bushs Erfolg im Jahr 2000, werde McCain sowieso verteidigen. Virginia, wo die Demokraten seit 1964 nicht mehr gewonnen haben, ebenso.

Doch dann mussten die Republikaner zusehen, wie ihre schlimmsten Befürchtungen Schritt für Schritt Wirklichkeit wurden, je weiter die Auszählung in den drei Zeitzonen von der Ost- zur Westküste voranschritt. Als die ersten Wahllokale um 18 Uhr Ostküstenzeit schlossen und Hochrechnungen aufgrund von Wählerbefragungen die Runde machten, ging Obama in Indiana und Florida in Führung. In Virginia, dem Südstaat, der sich der neuen Zeit lange entgegengestemmt hatte, sah es anfangs noch tröstlich für McCain aus. Aber das lag daran, dass die dünner besiedelten, ländlichen Regionen, wo die Konservativen stark sind, traditionell schneller bei der Auszählung vorankommen als die Städte, die mehrheitlich demokratisch wählen. Nur die acht Wahlmännerstimmen aus Kentucky durften die Republikaner schon früh für sich verbuchen, etwas später auch die acht aus South Carolina.

Kurz nachdem in einer zweiten Welle Wahllokale geschlossen hatten, lag der Demokrat mit 102 zu 43 Wahlmännern in Führung; nach der dritten Welle um 21 Uhr Ostküstenzeit mit 174 zu 49. Da war die Hoffnung im McCain-Lager schon fast erloschen. Die sogenannten „Swing States“, die sich mal für die Demokraten, mal für die Republikaner entscheiden, kippten einer nach dem anderen in Obamas Lager: Pennsylvania, Ohio, selbst der Südstaat North Carolina –, und in Florida gab Obama die Führung nie ab.

Und im Weißen Haus feiert Familie Bush – freilich nicht die politische Entwicklung. George W.’s Ehefrau Laura begeht ihren 62. Geburtstag.

McCain hat Obama bereits telefonisch gratuliert, als er vor die Kameras tritt, um seine Niederlage einzugestehen. Doch die Enttäuschung schiebt er beiseite. Er ist nun ganz Patriot. Er beschwört die historische Stunde – ja, er zeigt die Größe, diesen Tag seines Misserfolgs zu den stolzesten Momenten in der Geschichte der USA zu zählen. Was Amerika an diesem 4. November vollbracht habe, gehöre zu den Gründen, „warum ich dieses Land so sehr liebe“. Er kondoliert Obama zum Tod seiner Großmutter, die den Triumph ihres Enkels nicht mehr erleben durfte. Sie hatte Barack auf Hawaii großgezogen, am Montag war sie gestorben.

Und dann bietet McCain seinem Rivalen die volle politische Unterstützung an und fordert auch seine Anhänger auf, sich hinter den neuen Präsidenten zu stellen. „Ich werde alles, was in meiner Kraft steht, tun, um ihm zu helfen, dass er uns sicher durch diese schwierige Zeit führt.“ An vereinzelten Pfiffen und manchem Murren im Hintergrund ist zu hören, dass nicht alle McCains Haltung teilen.

Im Grant Park in Chicago ist die Stimmung ausgelassen. Die Fernsehkameras zoomen sich in das vergnügte Gesicht eines blondgelockten Mädchens, das auf den Schultern des Vaters thront, und in die feuchten Augen des Bürgerrechtlers Jesse Jackson. Dann nimmt der Sieger die wenigen Stufen auf die Bühne mit schnellen, leichten Schritten und mit ihm die künftige First Family. Michelle Obama trägt ein schwarzes Kleid mit rotem Muster. Malia, die zehnjährige Tochter, wirkt schon ganz wie eine junge Dame in ihrem schicken Kleid. Ihre Schwester Sasha, sieben, schmiegt sich in den Arm des Vaters.

Barack Obama knüpft an die Botschaft seiner Siegesrede von Iowa an. „Wenn es da draußen immer noch Menschen gab, die nicht glauben wollten, dass dies in den USA möglich ist, dann hat dieser Abend ihnen eine Antwort gegeben.“ Auch er ist ganz Patriot und Versöhner. Er dankt John McCain und dessen Vizekandidatin Sarah Palin für den großartigen Wahlkampf. „Ich freue mich darauf, mit ihnen zusammenzuarbeiten.“

Es ist zunächst keine große Rede, aber sie setzt den Ton. Die Lagerspaltung muss ein Ende haben. „Es gibt kein Amerika der Republikaner und kein Amerika der Demokraten. Es gibt nur die Vereinigten Staaten von Amerika.“ Er dankt seiner Frau, „der Felsen, auf dem unsere Familie ruht“. Und er verspricht seinen Töchtern, die ihren Vater monatelang nur selten gesehen haben, den jungen Hund, den sie sich schon lange wünschen.

Dann wird er ernst, und das Gewicht der künftigen Verantwortung ist auf einmal im Grant Park zu spüren. Ein kühler Novemberwind weht vom Michigan-See herüber. „Ich werde nie vergessen, wem ich diesen Sieg zu verdanken habe – euch“, den Bürgern. „Die Straße vor uns ist steil.“ Er werde nicht alle Versprechen im ersten Jahr erfüllen können, nicht mal in einer ganzen Amtszeit. „Der Sieg ist nicht die Wende. Er gibt uns nur die Chance zur Wende.“

Er beschwört die Botschaften großer Amerikaner – und jeder versteht, ohne dass er sie beim Namen nennt. Die Nation müsse sich auf „Patriotismus und Dienst am Nächsten“ besinnen, da denkt jeder an Kennedy. Obama lässt auch Martin Luther King anklingen, der am Abend vor seiner Ermordung 1968 vom „promised land“ gesprochen und seinen Traum von einem besseren Amerika ausgebreitet hatte. „Ich kann euch nicht sagen, wann, aber ich kann euch versprechen, dass wir dorthin kommen werden“, sagt Obama.

Am Mittwochmorgen sieht die Nation weitere Bilder, die viele erstaunen: US-Soldaten im Auslandseinsatz, die freudig Arme, Mützen oder Fähnchen schwenken, als sie von Obamas Erfolg hören. Das Militär hat nicht nur auf den Vietnamhelden McCain gesetzt. Auch die Hautfarbe der Kandidaten ist offenbar nicht so wichtig geworden wie befürchtet. Jene Weißen, die auch heute aus Prinzip keinen Schwarzen im Weißen Haus sehen wollen, werden mehr als aufgewogen durch die – vor allem afroamerikanischen – Wähler, die gerade wegen der Hautfarbe für Obama gestimmt haben.

20 lange Monate hat Barack Obama Wahlkampf geführt, um an die Macht zu gelangen. Doch Ruhe gönnt er sich auch jetzt nicht. Zweieinhalb Monate sind es noch bis zu seiner Vereidigung am 20. Januar. Trotzdem verkündet er am Morgen nach dem Sieg schon die ersten Personalentscheidungen: John Podesta, Bill Clintons Stabschef im Weißen Haus, wird Chef der Übergangsverwaltung.

Barack Obama ist begierig darauf, den steilen und schwierigen Weg, der vor ihm und vor Amerika liegt, endlich in Angriff zu nehmen.

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