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Jaroslaw Kaczynski will Präsident werden.

© AFP

Präsidentenwahl in Polen: Jaroslaw Kaczynski: Sein zweites Gesicht

„Ist er das noch?“, fragen sich die Polen überrascht. Denn etwas stimmt nicht mit Jaroslaw Kaczynski. Der gefühlskalte Politiker wandelt sich zum Menschen, der liebt und leidet. Er übernimmt die Rolle des verunglückten Zwillingsbruders – und will heute auch Präsident werden.

Seine Stimme klingt sanft, etwas schüchtern wirkt sein Lächeln. Warm glänzen seine Augen, obwohl der Blick traurig und besorgt erscheint. Seine Haare sind merklich weißer geworden, tief graben sich die Falten in das abgemagerte Gesicht. Ein Mann, der eine schwere Zeit hinter sich hat.

Kaczynski begrüßt das Publikum in seinem Wahlkampf-Quartier. Der Saal im Warschauer Hotel Europejski ist voll. Selbst Stehplätze gibt es nicht mehr. Nebenan haben sie eine Leinwand aufgestellt, damit alle diejenigen, die draußen bleiben müssen, die Rede live verfolgen können. Wie verzückt starren die Leute dort auf das überlebensgroße Gesicht, verschlingen jedes Wort des Vorsitzenden. „Der Vorsitzende“, so nennen seine Anhänger Jaroslaw Kaczynski. Am heutigen Sonntag will er sich von ihnen zum Staatspräsidenten wählen lassen, knapp zwei Monate nach dem Tod seines jüngeren Zwillingsbruders Lech, dem ehemaligen Präsidenten.

Das Gesicht ist, trotz der Veränderungen, immer noch dasselbe. Aber er selbst? „Ist er das noch?“, fragen sich die Leute seit einigen Wochen. Etwas stimmt nicht. Seine Stimme, sein Verhalten überrascht. Die eng zusammengepressten Lippen, seine steife Haltung sind weg. Stattdessen: ein Lächeln und eine milde Stimme. Freundlich wirkt er.

Doch am meisten überraschen seine Worte. Er sei der Streitigkeiten müde – das sagt Kaczynski, der Chef der nationalkonservativen Partei Recht und Gerechtigkeit (PiS), bei seinem ersten Auftritt als Präsidentschaftskandidat. „Es ist Zeit, den polnisch-polnischen Krieg in der Politik zu beenden.“ Ausgerechnet er sagt das, der bekannt ist für seine politischen Angriffe auf alle, die anders denken. Sein härtester Gegner im Kampf um die Präsidentschaft ist Bronislaw Komorowski, Parlamentspräsident und Kandidat der liberalen Bürgerplattform PO, der seit Lech Kaczynskis Tod kommissarisch Präsident ist. Eine Zeit lang galt er als sicherer Sieger. Dann wurde Jaroslaw Kaczynski zu Lech, dank einer großen PR-Kampagne.

Jaroslaw Kaczynski sei ein neuer Mensch, sagt Pawel Poncyliusz, der Sprecher in seinem Wahlkampfteam. „Die Tragödie bei Smolensk hat ihn komplett umgewandelt.“ Das Flugzeugunglück nahe der russischen Stadt, bei dem auch Kaczynskis Zwillingsbruder und seine Schwägerin starben, war ein schwerer Schlag für ihn. Die Polen können das nachvollziehen. Die beiden waren seine nächsten Angehörigen, abgesehen von der Mutter, die zu diesem Zeitpunkt schwer krank in einer Klinik lag. Einer seiner ehemaligen Kollegen sagte mal, Jaroslaw Kaczynski sei bereit, alles und alle hinter sich zu lassen, um seine Ziele zu erreichen. Mit einer großen Ausnahme: seiner Familie.

„Unsere Leben verliefen parallel, die Bindung zwischen Zwillingen ist sehr stark“, erzählte Jaroslaw Kaczynski in einem Interview nach dem Tod seines Bruders. „Lech war schon immer bei mir und ich bei ihm.“ Jetzt öffne sich ein neues Kapitel seines Leben, sagte er. „Und ich kann mir noch nicht vorstellen, wie es aussehen wird.“

Die Polen haben Mitleid. Parteiübergreifend. Medien befragen Zwillingspaare, wie es wäre, wenn einer fehlen würde. Immer wieder ertappen sich die Menschen vor dem Fernseher bei dem Gedanken, welcher von den beiden Brüdern wohl gerade gezeigt werde. Es ist nicht einfach, sich vom Doppelbild zu verabschieden, das man während der vergangenen 20 Jahre kannte.

Wie selbstverständlich wurde Jaroslaw Kazcynski nun zum Erben seines Zwillingsbruders. Sogar seine Gegner erwarten das. Jaroslaw Kaczynski versteht es als seine Mission. „Ich fühle mich verantwortlich für unser Milieu und die Ideen, die mein Bruder und ich jahrelang vertreten haben“, erklärt er. Und er sagt: „Ich weiß, dass er möchte, dass ich kandidiere.“

Trotz seines zweifellosen Leids ist seine Strategie besser gestaltet als je zuvor. Kampagnen in Polen sind immer emotional, diese aufgrund der Umstände noch mehr als sonst. Und Kaczynski hat am Anfang einen klaren Vorteil: Er darf schweigen, er darf sich zurückziehen, wie er es in den ersten Wochen nach dem Unglück tut, er darf leiden. Seine Gegner warten seine Schritte ab. Das ist die Chance für Jaroslaw Kaczynski, den noch vor wenigen Monaten nur ein Prozent der Bevölkerung zum Präsidenten gewählt hätte. Die Polen mochten ihn nicht.

Unverdrossen bastelt er am neuen Image. Und verbreitet es ausgerechnet durch die populäre Boulevardpresse. In „Super Express“ erscheinen rührende Bilder von Jaroslaw mit seiner Nichte Marta, der Tochter von Lech, und ihren Töchtern bei einem Spaziergang. In „Fakt“ erzählt er von der Trauer nach dem Verlust des Bruders, von den Sorgen um den Staat und sogar von seinen unglücklichen Liebesgeschichten. In der Illustrierten „Gala“ lässt er seine Nichte über sich erzählen. Auch er selbst gibt ein Interview – „nicht über Politik, sondern Emotionen“, lautet die Unterzeile. Der Knallharte gibt sich verletzlich.

Durch die Medien begleiten ihn die Polen so in der alltäglichen Bewältigung der Tragödie. Sie trauern mit, als er den aus Russland eingetroffenen Sarg seines Bruders begrüßt. Sie stehen neben ihm, als er in der Kirche betet. Sie sind dabei, wenn er der kranken Mutter die Hiobsbotschaft überbringt.

Einigen wird das zu viel. Es sei ein kalt kalkulierter Weg in den Präsidentenpalast über die Leiche seines Bruders, kommentieren Kritiker. Doch die Kampagne erreicht ihr Ziel. Aus Jaroslaw Kaczynski, dem kühlen Politiker, wurde in den vergangenen Wochen ein Mensch, der lebt, liebt und leidet. In den Umfrageergebnissen gewinnt er enorm, mehr als 30 Prozent der Polen unterstützen ihn nun.

Auf der Bühne zeigt er sein neues Gesicht mit Worten. Eine professionelle PR-Agentur sorgt für den Rest. Sie verpasst ihm eine elegante Brille, die ihn intelligenter wirken lassen soll. In seinen Werbespots und Videobotschaften setzt man ihn an ein Klavier, an den Schreibtisch seines Bruders, komplett mit Porzellan-Teekanne. Ruhig, warm und gebildet soll Jaroslaw Kaczynski erscheinen. Als die Polen über seine Brille witzeln, verzichtet er bald wieder darauf. Auch das Klavier verschwindet aus der Werbung nachdem herauskommt, dass Kaczynski gar nicht spielen kann.

Es folgt eine Reihe von Überraschungen. Kaczynski bedankt sich per Videobotschaft bei den „russischen Brüdern“ für das nach der Katastrophe gezeigte Mitleid. Zum Oderhochwasser reist er Anfang Juni nach Frankfurt, isst Kartoffelsalat und Würstchen mit Oberbürgermeister Martin Wilke. Er lobt den Schengen-Beitritt und sieht die grenzüberschreitende Kooperation als riesige Chance für Polen. Ein Patriot, aber ohne Deutschland- und Russlandphobien, ein ausgewogener Staatsmann und Politiker, gleichzeitig ein warmer und freundlicher Mensch. Genauso wie sein toter Bruder, Lech Kaczynski in Erinnerung behalten wird.

Mit Lech verlor Jaroslaw nicht nur den Zwillingsbruder, sondern auch den politischen Unterstützer und Partner, dem er am meisten vertraute. Das Phänomen der beiden Kaczynskis begründete sich in ihrer verblüffenden Ähnlichkeit. Zu ähnlich waren sie, um als einzelne Wesen betrachtet zu werden. Im Ausland bezeichnete man sie einfach als „Kaczynski-Brüder“, auch die Polen hatten damit ein Problem. „Der Lech hat einen sauberen Anzug, und der Jaroslaw hat auf seinem Katzenhaare. So unterscheidet man sie“, lautete ein Scherz im Land. Dabei besaßen beide Brüder eine Katze. Doch für den durchschnittlichen Bürger war Lech der Kaczynski mit Frau und Tochter, und Jaroslaw der Unverheiratete mit Katze.

Politisch war dies für beide ein enormer Vorteil. Denn die Ansichten der beiden PiS-Politiker waren in der Tat nicht identisch. Beobachter betrachteten Lech als den sanfteren und moderateren, ein Image, zu dem auch seine Frau Maria beitrug. Lech war auch skeptischer gegenüber den sehr konservativen Gruppierungen. Sie kritisierten ihn heftig, als er sich etwa gegen die weitere Verschärfung des Abtreibungsgesetzes aussprach.

Sein Bruder Jaroslaw musste sich für Lechs Ansichten öfters vor seiner stark konservativen Kernwählerschaft rechtfertigen. Trotzdem, oder ausgerechnet deshalb, gelang es den Brüdern als Team, die Unterstützung sämtlicher Konservativer für sich zu gewinnen, von den liberalen bis zu den erztraditionellen. Für ihre Anhänger hatten die Kaczynskis das gleiche Gesicht – und hinter dem sah der Wähler den Bruder, den er gerade sehen wollte: Mehr zentral oder mehr rechts, einen überzeugten und warmen Familienmenschen, wie es sich bei Konservativen gehört, oder einen kühlen Single, dem sein politischer Kampf um Polen über alles geht. Einmalig – aber politisch praktisch.

Jaroslaw, der hinterbliebene Bruder, hatte eine schwierige Aufgabe. Er musste auch die moderateren Wähler von sich überzeugen. Dabei gehörte er früher zu den Politikern mit der größten sogenannten „negativen Wählerschaft“: Menschen, die bereit waren für jeden Politiker ihre Stimme abzugeben – solange es gegen Jaroslaw Kaczynski ging. Auch in seiner eigenen Partei war diese Ansicht verbreitet. PiS-Wähler hätten möglicherweise auch Lech Kaczynski ihre Stimme gegeben. Er muss nun alle überzeugen, dass er sich für das Amt des Staatspräsidenten ebenso eignet wie sein Bruder – und darf gleichzeitig die eigenen Anhänger nicht verlieren.

Bisher sei ihm das gut gelungen, beurteilt Jaroslaw Flis, Soziologe an der Universität in Krakau. „Er hat sein Auftreten, sein Verhalten und seine Sprache gemildert, ohne sich gleichzeitig von irgendeinem Punkt seines Programms zu verabschieden.“ Der Ton ist neu, der Inhalt gleich, so dürfen es die Wähler sehen. Auf die Frage eines Journalisten, ob er sich tatsächlich geändert habe, sagte Kaczynski: „Die Antwort überlasse ich der Intelligenz der Polen.“ Ein Augenzwinkern für die Kernwählerschaft, die sich ohnehin schwertut, an seine Umwandlung zu glauben.

„Er ist so wie immer“, sagen auch Jakub und Joanna, 24 und 23 Jahre alt, auf der Wahlveranstaltung in Warschau. „Es ist nur eine mediale Taktik“, meinen sie. Klar, änderten sich die Worte, die Art und Weise, wie er seine Ziele darstelle. Das Wesentlichste jedoch, das Programm, bleibe. „Ansonsten würden wir für ihn ja nicht abstimmen.“ Die beiden stimmen schon für Kaczynski, seitdem sie zum ersten Mal zu den Wahlurnen durften – sowohl für Jaroslaw als auch für Lech. Als junge Hochschulabsolventen gehörten sie damit bis vor kurzem zu den Ausnahmen. Denn traditionell galt die konservative Wählerschaft von Jaroslaw Kaczynski als älter, schlecht ausgebildet und tief gläubig. Seine Europa-Skepsis und Fremdenfeindlichkeit, die Angst vor allem, was seiner Meinung nach Polen bedrohen könnte, konnten die Jungen und Gebildeten kaum akzeptieren.

„Es war peinlich, für Kaczynski abzustimmen“, sagt Jakub. Er selbst hätte das öfter erlebt, sogar in den eigenen Familien. „Bei mir zu Hause bin ich der Einzige, der für Kaczynski stimmt“, sagt er und lacht. Doch Jakub merkt, dass sich das langsam ändert. Er zeigt auf das Publikum. Neben den Älteren stehen auch Leute, die jünger sind als 40, in Anzügen und mit Laptoptaschen. Im Knopfloch oder auf dem Kragen tragen einige einen Anstecker: Glosuje na Jarka. Ich wähle Jarek, die Kurzform von Jaroslaw.

„Das Abstimmen für Jaroslaw Kaczynski ist immer weniger eine Blamage“, gibt auch Olgierd Annusewicz zu, ein Politologe aus Warschau. Denn zumindest in der aktuellen Kampagne gibt es kaum noch Zeichen der Rückständigkeit. Kaczynski präsentiere sich als offener Mensch was die Nachbarländer betrifft, die EU und sogar die Technik. „In diesjährigen Kampagnen hat er kein einziges historisches Symbol benutzt, sogar die Bedeutung des Warschauer Aufstandes hat er weggelassen“, sagt Annusewicz. Dafür sprach er von technologischer Entwicklung und Steuerabbau.

Der Großteil seiner Wähler ist noch immer älter als 50. Aber Umfragen zeigen, dass die Zahl der Jungen, bis 30-Jährigen, unter seinen Unterstützern steigt. Von neun auf nunmehr 20 Prozent. Doch warnen Beobachter auch davor, dass sich die jungen Menschen vielleicht nur aus Mitleid für Jaroslaw entscheiden. Ohnehin entscheiden viele Polen, auch das zeigen Umfragen, bei der Wahl ganz spontan. Auf ihre Stimmen kann Kaczynski noch hoffen. Sie lassen sich vom Gefühl leiten – und er ist derzeit Meister der Emotionen.

Er glaube, dass der Flugzeugabsturz bei Smolensk ein schreckliches Erlebnis für Jaroslaw Kaczynski war, sagt Wlodzimierz Cimoszewicz, ein unabhängiger Senator und einst der ernsthafteste Gegner von Lech Kaczynski bei den Präsidentschaftswahlen. „Doch ich glaube auch“, sagt er, „dass man sich nach 20 Jahren konsequenter Politik nicht so plötzlich ändern kann, sogar nach einer solchen persönlichen Tragödie nicht.“

Jaroslaw Kaczynski ist ein Gewinner, selbst wenn er nicht gewählt wird. Mehr als ein Drittel der Nation wünscht ihn sich als Präsidenten. Das ist sogar mehr, als sein Bruder vor seinem Tod erwarten konnte. Als Zwilling hat Jaroslaw den Sprung nach oben geschafft. Weiter muss er nun allein gehen.

Agnieszka Hreczuk

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