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Proteste: Risse im Gebäude der Islamischen Republik

Am Donnerstag hatten wieder tausende Iraner gegen das Regime protestiert, auch wenn die Schlägertrupps des Obersten Religionsführers mit allen Mitteln versuchen, für Ruhe zu sorgen. Eine Zwischenbilanz vier Wochen nach der Präsidentenwahl im Iran.

Um Tränengaswolken auszuweichen, überquerte die alte Frau vor dem Teheraner Stadttheater den Vali-e-Asr Boulevard. „Lasst euch nicht einschüchtern“, rief sie im Vorübergehen den jungen Demonstranten zu, die vor Polizisten mit Gummiknüppeln und Milizen auf Motorrädern zurückwichen. Da trat ihr ein Geheimagent in die Beine und stieß sie zu Boden: „Halt das Maul oder ich werde dich erwürgen”, schrie er sie an. „Jetzt steh auf und hau ab.“

Keine zwei Tage alt ist dieser Augenzeugenbericht. Wieder hatten am Donnerstag tausende Iraner mit Rufen „Nieder mit dem Diktator“ gegen das Regime protestiert. Auch wenn die Schlägertrupps des Obersten Religionsführers Ali Chamenei mit allen Mitteln versuchen, für Ruhe zu sorgen, die Empörung der Bevölkerung über die manipulierte Präsidentenwahl klingt nicht ab. Die Sympathie für die wenigen Mutigen, die sich immer noch auf die Straße wagen, eint jung und alt. Und die Risse im Gebäude der Islamischen Republik werden immer sichtbarer.

„Es ist unsere Pflicht, mit den Protesten fortzufahren, um die Rechte des Volkes zu verteidigen”, ließ Mir Hossein Mussawi auch diese Woche wieder durch seine Website verbreiten. Bisher hat das Regime nicht gewagt, ihn festzunehmen. Er ist ein Mann des Systems, verfügt über beste Verbindungen und weiß auf der revolutionären Klaviatur der Islamischen Republik genauso gekonnt zu spielen wie seine Gegner. Wichtige Teile des politischen und religiösen Establishments sind auf seiner Seite, wie die gut hundert Parlamentsabgeordneten, die demonstrativ der Siegesfeier von Mahmud Ahmadinedschad fernblieben. Die Spitzenkleriker des Landes wiederum gehen zum Obersten Religionsführer Chamenei auf Distanz. Drei der neun Großajatollahs aus Qom protestierten offen gegen den Wahlbetrug und die Verhaftungswelle. Außer einem hat bisher keiner aus der religiösen Top-Elite dem Präsidenten zur Wiederwahl gratuliert – ein offener Affront, wie es ihn bisher noch nie gab. Ähnlich denken auch beträchtliche Teile des mittleren und niederen Klerus: „Die Mehrheit des Volkes glaubt nicht, dass Ahmadinedschad gewonnen hat“, sagt Ajatollah Hossein Mousavi Tabrizi, Chef der in Qom ansässigen „Assoziation von Gelehrten und Forschern“. „Die Legitimität der Regierung ist zweifelhaft – das ist das Mindeste, was sich heute sagen lässt.“

Dabei hatte die Islamische Republik erst vor sechs Monaten ihr dreißigjähriges Bestehen bejubelt. Jetzt steckt sie in der tiefsten Krise, seit Ajatollah Chomeini 1979 Schah Reza Pahlevi aus dem Land jagte. Inzwischen ist dem Regime nicht mehr nach feiern zumute. Denn jeder noch kommende offizielle Gedenktag an die turbulenten Startphase der Revolution birgt das Risiko neuer Massenproteste. Das Gleiche gilt auch für das in der schiitischen Religiosität zentrale Ritual des Totengedenkens. Alle Anträge werden abgelehnt aus Angst vor neuen grünen Kundgebungen. Auch sonst gerät das spezifische Ineinander von Religion und Politik immer mehr aus den Fugen. Freitags predigen die Größen des Regimes als Willen Allahs unerbittliche Härte gegen Demonstranten. Wochentags lassen sie systematisch allen die Wohnung verwüsten, die von ihrem Balkon „Allah ist groß“ rufen.

Mussawi kalkuliert damit, dass der iranische Gottesstaat auf absehbare Zeit polit-religiöse Versammlungsformen wieder zulassen muss, will er sich nicht als Gesellschaftssystem aufgeben. Auch Internetblockaden und SMS-Blackouts lassen sich nicht durchhalten, ohne schwere wirtschaftliche Nebeneffekte zu erzeugen. Momentan herrscht erzwungene Stille. Das offene Feuer des Protests ist übergegangen in einen unkalkulierbaren Schwelbrand, der jederzeit wieder aufflammen kann. Die Legitimitätskrise des Systems wird weitergehen – und sich auch nicht durch erfolterte Geständnisse über angebliche ausländische Verschwörungen stoppen lassen. Zum ersten Mal haben im Iran die geistlichen Machthaber ihre Aura der Unangreifbarkeit verloren. Und ihr Präsident Ahmadinedschad ist vom selbst ernannten Sprecher gegen die Dominanz des Westens zu einem grinsenden Politbetrüger mutiert, der auf seine eigenen Landsleute schießen lässt.

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