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Politik: Provokateur im Hinterhof

Bolivien wählt: Erstmals könnte ein Indio Präsident des Andenstaates werden, der als „nahezu unregierbar“ gilt

Von Michael Schmidt

Berlin - Bolivien – der Name des Andenlandes provoziert hierzulande vor allem Erinnerungen an Bilder der Gewalt, der Armut und politischer Instabilität. Zu Recht: Mehr als 190 Regierungswechsel hat der Staat in den 180 Jahren seit seiner Unabhängigkeit 1825 erlebt. Und nachdem zuletzt zwei Präsidenten durch Straßenblockaden und Massenproteste aus dem Amt und in einem Fall gar aus dem Land gejagt wurden, sind vier Millionen Bolivianer am Sonntag aufgerufen, einen Nachfolger für Interimsstaatschef Eduardo Rodriguez zu bestimmen.

Aussichtsreichster Kandidat ist der Sozialist Evo Morales. Der 46-jährige Führer der Koka-Bauern könnte der erste indigene Präsident des Landes werden. Für einen Sieg bräuchte er aber eine absolute Mehrheit – die wird er kaum bekommen. Deshalb wird nach Einschätzung von Günther Maihold, Lateinamerikaexperte der Stiftung Wissenschaft und Politik in Berlin, das ebenfalls neu gewählte Parlament den nächsten Staatschef wählen, so sieht es die Verfassung vor.

Dabei könnte sich sein stärkster Konkurrent, Jorge Quiroga, mit Hilfe kleinerer Parteien durchsetzen. Der 45-jährige Ex-Präsident steht für die neoliberale Strukturanpassungspolitik der 90er Jahre, die in den Augen vieler Bolivianer nicht die gewünschten Erfolge erzielt hat: Die Armut wurde nicht verringert, die soziale Ungleichheit sogar noch verschärft. Morales tritt deshalb für die Verstaatlichung der Öl- und Gasvorkommen ein. Und er fordert, mit größtem Misstrauen beäugt von den USA, die ihm außerdem seine große Nähe zum bärtigen Patriarchen Kubas, Fidel Castro, und zu Venezuelas Präsident Hugo Chávez übel nehmen, eine Abkehr von deren Null-Drogen-Politik. Und eine Legalisierung des Koka-Anbaus und -Handels. Eine der wenigen Erwerbsmöglichkeiten der verarmten Landbevölkerung. Da die Anti-Koka-Politik Boliviens vor allem von Seiten der USA gefordert wird, ist Koka zum Symbol der Verteidigung der andinen, indigenen Kultur und nationalen Souveränität geworden. Thomas Shannon, Assistant Secretary of State for Western Hemisphere Affairs des US-State Departments, macht daher die Haltung der USA ganz klar: Quiroga ist gut, Morales ist intolerabel.

Wer immer als Sieger aus der Wahl hervorgeht, steht dramatischen Herausforderungen gegenüber. Das Land ist zerrissen, ökonomisch, ethnisch, regional und kulturell. Bolivien ist zwar eines der ressourcenreichsten Länder Südamerikas – das Land verfügt über große Vorkommen an Erdöl und -gas. Es ist jedoch mit einem durchschnittlichen Jahreseinkommen von 800 Euro pro Kopf zugleich eines der ärmsten Länder des Halbkontinents: 63 Prozent der mehrheitlich indigenen Bevölkerung gelten als arm. Zu den ökonomisch verheerenden Zuständen kommt die Erosion des politischen Systems.

Das Vertrauen in Amtsträger ist gering, das staatliche Gewaltmonopol in Frage gestellt, der soziale Frieden gefährdet, die Parteienlandschaft zersplittert. Es fehlt am Sinn für Kompromisse. Das Land sei „nahezu unregierbar“, sagt Maihold. „Die Existenz des Staates Bolivien „in seiner nationalen Einheit ist akut gefährdet“. Die wirtschaftlich besser gestellten Provinzen fordern mehr Autonomie, die indigenen Bewegungen stärkere Selbstbestimmung und mehr Einfluss auf die Entscheidungen darüber, wie die natürlichen Ressourcen genutzt werden sollen. „Ich kann nicht sehen“, sagt Maihold, „ welche politische Kraft in der Lage wäre, diese zentrifugalen Tendenzen in einem politischen Konsens zusammenzuführen.“

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