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Ausnahmezustand. Ein Baby wird in Nihonmatsu in der Nähe von Fukushima auf eine mögliche Verstrahlung untersucht.

© Reuters

Radioaktivität und Wetterlage: Unsichtbare Gefahr

In der Umgebung der Atomanlage erreicht die Strahlung sehr hohe Werte – vor allem das Kraftwerkspersonal ist davon bedroht.

Seit Tagen kämpfen die Techniker an den havarierten Reaktoren, um das Schlimmste abzuwenden. Was im Detail passiert, ist noch immer weitgehend unklar. Auch die Berichte, wonach Radioaktivität ausgetreten sei, ließen die Menschen lange Zeit im Unklaren darüber, welche Mengen tatsächlich an die Umgebung abgegeben werden. Davon hängt aber ab, wie groß das Risiko für die Bevölkerung tatsächlich ist.

Die Lage verschärfte sich, als Regierungschef Naoto Kan am Dienstagmorgen deutscher Zeit mitteilte, dass die im Kraftwerk Fukushima I ausgetretene Radioaktivität ein „gesundheitsgefährdendes Maß“ erreicht habe. Damit war klar, dass die Belastung der Menschen deutlich über dem Grad liegt, dem sie im Alltag ausgesetzt sind: durch Radioaktivität aus Gesteinen, medizinische Untersuchungen und durch kosmische Strahlung, die besonders bei Flugreisen bedeutsam ist.

Beziffert wird die radioaktive Belastung in der Einheit Sievert, benannt nach dem schwedischen Mediziner und Physiker Rolf Sievert. Sie beschreibt, wie viel Energie auf eine bestimmte Masse einwirkt. Weil in der Regel nur sehr geringe Dosen auftreten, arbeitet man der Einfachheit halber mit Tausendstel (Millisievert; abgekürzt mSv) oder Millionstel Teilen (Mikrosievert, µSv) der Bezugsgröße.

Die übliche Menge an natürlicher Strahlung, der ein Mensch durchschnittlich pro Jahr ausgesetzt ist, beträgt 2,4 Millisievert. In manchen Berufen sind die Dosen um einiges höher, dort gibt es strenge Grenzwerte, um das Gesundheitsrisiko gering zu halten. Vor allem kurzfristige höhere Dosen sind gefährlich, weil sie den Körper auf ein Mal treffen. Dann kann es zur Strahlenkrankheit kommen. Wirkt auf den Körper binnen kurzer Zeit die 500-fache Jahresdosis ein, sind Kopfschmerzen und ein hohes Infektionsrisiko die Folge. Steigt die Kurzzeitbelastung noch weiter an, endet sie für viele Menschen tödlich.

Diese Gefahr droht jetzt vor allem den Kraftwerksarbeitern in unmittelbarer Nähe der Reaktoren. 22 Menschen werden derzeit bereits wegen erhöhter Strahlenbelastung medizinisch behandelt. Für den größeren Umkreis ist eher die langfristige Belastung eine Gefahr, die von radioaktiven Elementen in der Umgebung, der Nahrung, dem Trinkwasser und Anreicherungen im eigenen Körper ausgeht. Zwar gibt es keine akuten Symptome wie bei der Strahlenkrankheit, doch kann der fortwährende Beschuss, vor allem mit Beta- und Gammastrahlung, die Erbsubstanz DNS schädigen. Die Reaktorkatastrophe von Tschernobyl hat gezeigt, dass langfristig besonders Schilddrüsenkrebs und Leukämie gehäuft auftreten.

Schon kurzfristig hohe Dosen sind extrem gefährlich

Einen eindeutigen Grenzwert, von dem an akute Krebsgefahr besteht, gibt es nicht. Wie bei allen Risikofaktoren gilt auch hier: Je größer die Belastung, umso wahrscheinlicher ist eine Erkrankung. Bereits jetzt ist die Strahlenbelastung rund um das Akw in Fukushima gravierend gestiegen. Nach Angaben der japanischen Regierung vom Dienstag wurden 400 Millisievert pro Stunde gemessen. Das sei mehrere Tausend Mal mehr als vor der Explosion im Block 4. Spitzenwerte erreichten gestern sogar mehr als 3100 Millisievert pro Stunde. Bis zum Mittag gingen die Messungen auf rund 100 Millisievert in der Stunde zurück, teilte der Akw-Betreiber Tepco mit.

Dieser vorübergehende Anstieg könnte mit der Explosion und dem folgenden Brand in der Nähe jenes Reaktorblocks 4 zu tun haben. Offensichtlich wurde dabei radioaktives Material in die Höhe geschleudert. Die Hauptbelastung seit dem Wochenende resultiert allerdings aus dem Wasserdampf, den die Techniker immer wieder aus den havarierten Reaktoren ablassen, um den Druck darin zu senken. Auf diese Weise hoffen sie, die Hülle der Reaktorkerne vor dem Bersten zu bewahren – andernfalls droht ein massenhaftes Entweichen radioaktiven Materials. Allerdings tritt bei dieser Rettungsmaßnahme nicht nur Wasserdampf aus, der nichts weiter ist als verkochtes Kühlwasser. Er reißt auch Spaltprodukte aus dem Zerfallsprozess in den Brennstäben mit sich. Dazu gehören vor allem Cäsium-137 und Jod-131.

Eine dritte Quelle für Radioaktivität könnte am Block 2 entstanden sein. Dort wurde bei einer Explosion am Dienstagmorgen (Ortszeit) vermutlich die innere Hülle beschädigt, so dass Radioaktivität mit der Luft nach außen dringen könnte.

Bereits jetzt sind radioaktive Elemente bis nach Tokio gelangt, das rund 250 Kilometer vom Unglückskraftwerk entfernt ist. Nach Angaben der Metropolenverwaltung sind geringe Mengen Jod und Cäsium registriert worden. Gesundheitsgefahr bestehe nicht, betonten die Behörden.

Die Windrichtung könnte wenigstens Tokio schützen

Dass die gefährlichen Atome in der Atmosphäre unterschiedliche Wege nehmen können, zeigen die Funde der letzten Tage. Einem Bericht der „New York Times“ zufolge sind am Sonntag über dem Pazifik, 100 Kilometer vom Kraftwerk entfernt, kleine Mengen radioaktiver Partikel – vermutlich Cäsium und Jod – detektiert worden. In größeren Entfernungen jedoch wurde noch keine Belastung festgestellt. Auch wurden bisher keine Uran- und Plutoniumisotope außerhalb der Reaktoren nachgewiesen.

Mit Bangen verfolgen die Menschen jetzt die Wettervorhersagen. In welche Richtung der Wind die „radioaktiven Schwaden“ transportiert, ist dabei die entscheidende Frage. Nachdem Radioaktivität zwischenzeitlich von bodennahen Winden in Richtung Hauptstadt geweht wurde, gab es gestern Nachmittag vorübergehend Entwarnung. Der Wind hatte gedreht, blies vom Land in Richtung offenes Meer. Vor allem in höheren Luftschichten von mehr als 1000 Metern herrschte von Anfang an eine Strömung aus West bis Südwest, teilt der Deutsche Wetterdienst mit. Diese verstärke sich weiter.

Für Japan ist das positiv. Denn die Radioaktivität wird vom Festland weggeblasen. In Nordamerika wächst derweil die Angst, dass im Falle einer katastrophalen Explosion in Fukushima radioaktives Material über den Pazifik nach Kanada und in die USA gelangt. Für die Menschen in Europa besteht nach Ansicht der EU-Kommission keinerlei Gesundheitsgefahr. „Es gibt derzeit keinen Hinweis darauf, dass die radioaktive Verseuchung möglicherweise andere Teile der Welt als Japan und insbesondere die EU betreffen könnte“, sagte ein Sprecher der EU-Kommission am Dienstag in Brüssel. Er fügte aber auch hinzu: „Die Lage kann sich ständig verändern.“

Dabei schwingt stets die Furcht vor einem zweiten Tschernobyl mit. Über halb Europa wurden damals radioaktive Partikel geweht. Ob diese gewaltige Verbreitung auch in Japan droht, darüber streiten die Fachleute. Der wissenschaftliche Berater der britischen Regierung, John Beddington, hält den Vergleich für unsinnig. „Wenn es in Fukushima eine große Explosion geben sollte, würde nur für kurze Zeit radioaktives Material freigesetzt, höchstens einige Stunden lang“, zitiert ihn der „Guardian“. Bei dem russischen Reaktor sei die Lage ganz anders gewesen. „Dort brannte der Kern aus Graphit, dadurch wurde das gefährliche Material in große Höhen geschleudert und das über eine lange Zeit.“ So konnte es sich über ein großes Areal verteilen.

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