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Rainer Brüderle im Interview: "Wir blamieren uns bis auf die Knochen"

Im Interview mit dem Tagesspiegel spricht FDP-Spitzenkandidat Rainer Brüderle über seine Wut auf die Deutsche Bahn, seinen schweren Unfall und warum die Deutschen Edward Snowden glauben. Die europäische Sicherheitsstrategie im Internet bezeichnet er als rückständig.

Von Antje Sirleschtov

Herr Brüderle, kurz vor dem Beginn des Wahlkampfes, Mitte Juni, hatten Sie einen schweren Unfall und haben sich mehrere Brüche zugezogen. Wie geht es heute?
Ich habe mir vor sieben Wochen den linken Unterarm und den linken Oberschenkel gebrochen. Aber jetzt geht es wieder gut. Ich kann schon wieder ohne Krücken laufen. Auch wenn ich sie aus Sicherheitsgründen noch mitnehme.

Sie sind im Wahlkampf Spitzenkandidat der FDP und damit das Aushängeschild der Partei. Haben Sie nach dem Unfall nicht gedacht: Das schaff’ ich nicht?
Nicht ein einziges Mal! Ich bin doch kein Stubenhocker, ich liebe Wahlkampf. Deshalb habe mich auch gar nicht lange mit Jammern aufgehalten. Schon einen Tag nach der Operation habe ich neben meinem Bett im Krankenhaus gestanden und die ersten Übungen gemacht. Nach zwölf Tagen bin ich dann in eine Rehabilitationsklinik gegangen. Und jetzt geht’s mit dem Wahlkämpfen los.

Sie sind 68 Jahre alt. Matthias Platzeck, der brandenburgische Ministerpräsident, ist gut zehn Jahre jünger. Er hat jetzt gesagt, seine Gesundheit lässt eine 80-Stunden-Woche eines Politikers nicht mehr zu. Bewundern Sie ihn für den Mut, auszusteigen, oder ist er ein Schlaffi für Sie?
Ich respektiere seine Entscheidung. Aber jeder muss selbst wissen, wie er mit so etwas umgeht. Ich bin weder auf den Kopf noch auf den Mund gefallen bei meinem Unfall. Und die Aussicht auf den Wahlkampf ist für mich eher ein Kraftquell, der mich rasch wieder auf die Beine getrieben hat. Solange mich die Leute noch haben wollen, mache ich weiter.

Noch mal ganze vier Jahre, Herr Brüderle. Dann sind Sie 72?
Na klar. Ich habe mir das gut überlegt, es macht mir Freude, Politik mitzugestalten. Ich mache weiter.

Und was sagt Ihre Frau dazu?
Wir sind jetzt 40 Jahre zusammen und da gilt: Wenn wir etwas gemeinsam diskutiert und entschieden haben, dann tragen wir das zusammen.

Herr Brüderle, warum haben die Deutschen einem amerikanischen Ex-Geheimdienstler, ohne jeden Zweifel an dessen Worten zu hegen, sofort geglaubt, dass der US-Geheimdienst NSA flächendeckend ganz Deutschland ausspioniert?
Es ist doch verständlich, dass wir auf mögliche Datenschutzverletzungen besonders sensibel reagieren. Die Deutschen haben in ihrer Geschichte zweimal unheilvolle Erfahrungen mit Geheimdiensten gemacht. Das prägt und lässt in einem Volk wahrscheinlich auch Jahrzehnte später noch ein tiefes Misstrauen zurück. Und dann lassen auch noch vollkommen neue technologische Entwicklungen Zweifel über deren Nutzungsmöglichkeiten aufkommen. Das ist doch normal.

"Ich kann Edward Snowden schwer einordnen."

Hat Sie selbst nie ein Zweifel beschlichen?
Na klar. Sehen Sie, ich kann SMS und E-Mails verschicken. Aber ich könnte niemandem erklären, wie das funktioniert und wer womöglich wo welche Daten anzapfen kann. Dass man da argwöhnisch ist, wenn einer behauptet, jedes Gespräch werde abgehört, das kann man doch verstehen.

Mancher hat den Ex-Geheimdienstler Edward Snowden als mutigen Helden gesehen. Sie auch?
Aus heutiger Sicht habe ich da meine Zweifel. Und ich muss auch sagen: Alle, Politiker und Medien, hätten vielleicht früher die Qualität und Herkunft der Informationen des Herrn Snowden prüfen sollen. Schließlich war er mal Geheimdienstmitarbeiter und kein Samariter aus dem Caritasverband. Außerdem hat er als Zufluchtsorte China und Russland gesucht. Ein wenig mehr Skepsis wäre also besser gewesen. Aber auf eine Weise hat er auch eine breite Debatte über die Sicherheit im Internet und die Kontrolle der Geheimdienste angestoßen. Und das war, wie wir sehen, auch bitter nötig. Erinnern Sie sich mal, wie eine liberale Politikerin wie unsere Justizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger noch vor einem Jahr kritisiert wurde, weil sie der anlasslosen Speicherung von Vorratsdaten über Monate hinweg einen Riegel vorgeschoben hat. Heute wird wohl niemand mehr behaupten, dass die FDP die Sicherheit der Deutschen leichtfertig aufs Spiel setzen will. Es war richtig, skeptisch zu sein, und jetzt sieht man, wie richtig die FDP lag.

Der im Bundeskanzleramt zuständige Minister, Ronald Pofalla, sagt, es gebe keine Datenausspähung des US-Geheimdienstes und damit keine massenhafte Grundrechtsverletzung in Deutschland. Einer von beiden, Snowden oder Pofalla, lügt also. Wem glauben Sie?
Ronald Pofalla kenne ich, er ist ein glaubwürdiger Mann. Ich kann mir nicht vorstellen, dass er vor dem Parlamentarischen Kontrollgremium des Bundestages nicht die Wahrheit sagt. Und Edward Snowden ist eine sehr schillernde Person, die irgendwo in Russland sitzt und tröpfchenweise Skandal-Infos abgibt. Ich kann diesen Mann schwer einordnen.

Die Bundesregierung will jetzt mit den USA ein „No-Spy-Abkommen“ schließen. Ist damit alles getan, um uns vor ausländischer Spionage zu schützen?
Das ist ein richtiger und wichtiger Schritt. Aber ich bin sicher, dass auf deutschem Boden auch andere Staaten mit ihren Geheimdiensten aktiv sind. Deutschland ist auch wegen seiner wissenschaftlichen Leistungen für andere Regierungen interessant. Wir benötigen dringend eine Diskussion darüber, wie wir ausländische Ausspähversuche und Wirtschaftsspionage wirkungsvoll verhindern können.

"Herr Grube kann nicht jeden Schüler mit der Limousine abholen lassen."

Was soll getan werden?
Was die Verhinderung von Auslandsspionage betrifft, müssen unsere Abschirmdienste Möglichkeiten haben, wirkungsvoll dagegen vorgehen zu können. Auch in Bezug auf den Schutz der Bürger und Unternehmen vor ausländischer Spionage. Aber weit darüber hinaus. Wir brauchen eine Euro-Cloud ...

... Sie meinen eine virtuelle Speicherwolke für Daten nur für Europa ...
... genau. Wer telefoniert denn noch mit europäischen Handys oder Software? Wir brauchen eine europäische Technologiestrategie, die uns unabhängiger macht. Und wir benötigen eine Diskussion über Datensicherheit. Schengen, den europäischen Sicherheitsraum, darf es nicht nur real geben, wir brauchen auch einen Schengen-Raum für Datensicherheit. Ich erwarte von der Europäischen Kommission eine europäische Sicherheitsstrategie für Daten und die Koordinierung der europäischen Maßnahmen. Wir benötigen eigene Kompetenzen. Im Internet haben andere bereits Feuerwaffen und wir in Europa laufen noch immer mit Pfeil und Bogen herum. Das geht nicht mehr. Wir können uns nicht länger technologisch ausliefern.

Herr Brüderle, als Mainzer müssen Sie sich doch im Augenblick die Frage stellen, wie Sie überhaupt noch zu Ihren Wahlkampfterminen kommen sollen. Zug fällt ja wohl aus, oder?
Ich sage es hier ganz klar: Das geht überhaupt nicht. Tausende Menschen in dieser Region wissen nicht, wie sie morgens zur Arbeit kommen sollen. Am Montag beginnt die Schule. Herr Grube ...

... der Vorstandschef der Bahn AG ...
Herr Grube bemüht sich ja sehr. Aber er kann nicht jeden Schüler einzeln mit der Limousine abholen lassen. Ich erwarte, dass sich die hoch bezahlten Manager des Bahn-Konzerns ihrer Gehälter würdig erweisen und die Probleme schnell lösen.

Was läuft schief bei der Bahn?
Was wir jetzt erleben, das sind Auswirkungen eines Systemproblems. Personalentwicklung und Personalplanung gehören zu den wichtigsten Parametern eines großen Unternehmens. Offenbar hat das Bahn-Management hier versagt. Wir blamieren uns nicht nur bis auf die Knochen. Es könnte schwieriger werden, international neue Aufträge für den Transportbetrieb zu bekommen.

Sollen die Mitarbeiter der Bahn jetzt früher aus dem Urlaub zurückkommen?
Die Mitarbeiter haben keinen Fehler gemacht, sondern das Management. Ich erwarte von der Bahn-Führung, was bei Feuerwehr oder Polizei eine Selbstverständlichkeit wäre: In Notsituationen bittet man Einzelne früher aus dem Urlaub zurück, übernimmt selbstverständlich die Kosten für den früheren Urlaubsabbruch der Familie und legt für den Einsatz in Not eine Prämie drauf.

Das Gespräch führte Antje Sirleschtov.

Zur Person:
Rainer Brüderle ist 68 Jahre alt und hat vor seiner Zeit im Bundestag lange Politik in Rheinland-Pfalz betrieben. Dort war er auch in einer sozialliberalen Landesregierung in Regierungsverantwortung. Brüderle gehört zu den Oldies in der Bundestagsfraktion der FDP.

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