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Politik: Raus aus dem Wartezimmer

In Ankara ist die Lage vor dem Gipfel gespannt – sogar ein Boykott deutscher Waren wird diskutiert

Recep Tayyip Erdogan musste bereits ein Machtwort sprechen: „Eine populistische Reaktion kommt überhaupt nicht in Frage", stellte der Chef der türkischen Regierungspartei AKP vor dem EU-Gipfel in Kopenhagen klar. Die Debatte über mögliche Konsequenzen, mit denen die Türkei auf den Kopenhagener Gipfel reagieren könnte, wenn dieser nicht den gewünschten Termin für die Aufnahme von Beitrittsverhandlungen beschließen sollte, war da bereits gefährlich eskaliert. Von einem Boykott deutscher und französischer Produkte war die Rede, auch von einem Ausschluss beider Länder von staatlichen Ausschreibungen. So weit will es die AKP nicht kommen lassen, doch die Leidenschaft der Diskussion zeigt, wie wichtig dieser Gipfel für die Türkei ist.

„Wir bleiben nicht ewig im Wartezimmer sitzen", sagte Ministerpräsident Abdullah Gül am Mittwoch. Die Hoffnung, schon in Kopenhagen einen festen Termin für Beitrittsverhandlungen zu bekommen, hat die Regierung allerdings aufgegeben, auch wenn sie offizielll an ihrem Wunsch festhält. Entscheidender Knackpunkt für die Türkei ist nun die Frage, ob eine verbindliche Entscheidung zur Aufnahme solcher Verhandlungen noch vor der EU-Erweiterung im Mai 2004 fallen soll oder erst danach. Mit einer Vertagung um sechs oder zwölf Monate könne Ankara leben, unterstrich Gül. Sollte die Entscheidung aber auf Ende 2004 verschoben werden, wie es der deutsch-französische Vorschlag vorsieht, dann bedeute dies das Ende der türkischen EU-Ambitionen. „Nach der EU-Erweiterung wird nichts mehr daraus", sagte der Ministerpräsident. „2004 ist für uns zu spät", fügte er hinzu. Spätestens Ende 2003 müsse die EU entscheiden.

Mit Zuckerbrot und Peitsche kämpft Ankara für dieses Ziel. Im Akkord verabschiedet das neue Parlament immer weitere Reformgesetze; rund 40 wichtige Demokratisierungsvorhaben sollen bis Freitag unter Dach und Fach sein. Zugleich stellt die Regierung den Europäern eine Lösung für das Zypernproblem in Aussicht: Erdogan zerrt die Zyperntürken geradezu an den UN-Verhandlungstisch.

Gleichzeitig jedoch üben die Türken mit Hilfe Washingtons Druck auf die Europäer aus. George W. Bush telefonierte mit einigen EU-Regierungschefs und dem EU-Ratspräsidenten Rasmussen, um sie zur Aufnahme der Türkei zu drängen. In Ankara werden reihenweise europäische Botschafter einbestellt und bekniet. Und das türkische Militär lässt durchblicken, dass es seine Rüstungskäufe auch außerhalb Europas tätigen könne. Viel heftiger dürfte die türkische Reaktion aber nicht ausfallen, wenn es in Kopenhagen beim deutsch-französischen Plan bleibt – dazu ist die neue Regierung in Ankara zu pragmatisch. Eine Aufkündigung der Zollunion mit der EU etwa ist nicht vorgesehen. Zwar will sich die Türkei durchaus nach Alternativen zur Integration in die EU umsehen, doch einen Bruch mit Europa wird es zumindest vorläufig nicht geben. Immerhin stehen bis zur Erweiterung der EU 2004 noch zwei Gipfel auf dem Programm. Und bis dahin kann Ankara weiter um ein früheres Datum kämpfen.

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