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Politik: Raus aus der Deckung

Von Robert Birnbaum

Das Zusammenspiel zwischen Fußball und Politik ist an sich ja eher ein lockeres. Seit dem „Wunder von Bern“ gilt gleichwohl als ausgemacht, dass beide Sphären durch geheimnisvolle Bande verknüpft sind. Der „Wir- sind-wieder-wer“-Sieg von 1954 hat ein Erklärungsmuster geprägt, das zwar leise abergläubische Züge aufweist, auf das die Politik aber trotzdem immer wieder gern zurückgegriffen hat: Gutes Spiel auf dem Platz macht das Volk zufrieden, und solche Zufriedenheit färbt irgendwie auch Volkes Sicht auf die Regierenden ins Wohlwollende. Als zum Beispiel die rot-grüne Regierung noch nicht an Neuwahlen dachte, war die Fußball-WM fest als Wohlfühlfaktor eingeplant, als Gelegenheit zur Stimmungswende kurz vor dem Wahlkampf, eingeläutet mit vielen Bildern von Gerhard „Acker“ Schröder bei Dribbling und Torschuss, gelernt ist gelernt … Die große Koalition kann uns Vergleichbares nicht bieten, schon weil Angela Merkel nicht auf dem Bolzplatz groß wurde. Dafür zeigt sie uns eine innovative Variante des Zusammenspiels: Fußball als Deckung für die Politik.

Es ist nämlich so, dass die ganz großen Entscheidungen der großen Koalition ziemlich genau in den vier WM-Wochen fallen werden. Rein zufällig natürlich, dieser Zeitplan, diktiert vom Rhythmus des Parlaments; am Tag vor dem Endspiel geht der Bundestag amtlich in die Sommerpause. Bis dahin sollen Gesundheitsreform und Unternehmensteuerreform im Prinzip vorliegen, der Supersparhaushalt 2007 ausverhandelt sein und die Föderalismusreform verabschiedet. Was Wunder, dass die Bundesregierung gewisse Probleme mit der Verpflichtung hatte, alle WM-Spiele wenigstens durch ein repräsentatives Kabinettsmitglied auf der Tribüne zu beehren. Die Damen und Herren haben im Grunde keine Zeit für schönste Nebensachen. Sie müssen die Tage nutzen.

Die Möglichkeiten liegen auf der Hand. Wer will sich über die Details einer Unternehmensteuerreform aufregen, wenn alle Stammtische nur die Frage umtreibt: Schaffen wir’s ins Viertelfinale? Wer zittert vor dem Fondsmodell für die Krankenkassen mehr als um Ballacks Wade? Was ist schlimmer: den Verteidigungshaushalt kürzen oder wegen schwacher Abwehr rausfliegen? Na also.

In dieser Konstellation liegt eine Versuchung und eine Verpflichtung. Die Versuchung ist die, zu pfuschen, weil’s ja eh keiner merkt. Die Verpflichtung ist die, die Chance zu nutzen. So unbehelligt von den üblichen Stürmen der Entrüstung, vom Gestöhne der Parteien, vom Gezeter der Lobbyisten wie in den Tagen bis zum 9. Juli wird diese Regierung ihre Arbeit nie mehr tun können. Wären sie nicht gerade frisch verzankt – was könnten sie einmal frei denken und handeln!

Jetzt sind sie nicht ganz so frei. Denken, vor allem handeln werden sie trotzdem müssen. Wolfgang Schäuble hat neulich im Kabinett an die alte Fußballweisheit erinnert: „Die Wahrheit liegt auf dem Platz.“ Die nächsten vier Wochen entscheiden darüber, ob Jürgen Klinsmanns Experiment mit frischem Team und Spielsystem gelingt und seine Mannschaft gewinnen kann (oder wenigstens sich anständig schlagen). Es ist nicht einmal allzu pathetisch, zu behaupten, dass das Gleiche für die Mannschaft Merkel/Müntefering gilt. Sie kriegt ein bisschen Luft im Windschatten des runden Leders, eine kurze Frist, sich nach dem Rumpelspiel der letzten Wochen besser aufzustellen. Ein Wunder, wenn das gelänge? Die soll es gelegentlich geben. Im Fußball jedenfalls.

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