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Reformstau: Unmut vor Wahlen in Russland

Vor den Kommunal- und Regionalwahlen in Russland am kommenden Sonntag wird der Unmut über Reformstau und Korruption immer spürbarer. So machen alte und neue Vorwürfe gegen Präsident Wladimir Putin die Runde.

Moskau – Schon 1992 hatte Marina Salje, damals mit Sitz im russischen Parlament und im Abgeordnetenhaus von St. Petersburg, die Kontrollabteilung der Kremladministration auf illegale Geschäfte in Russlands Perle des Nordens hingewiesen. Demzufolge hatte die dortige Außenwirtschaftsabteilung, der Wladimir Putin damals als Vizebürgermeister vorstand, Metalle und andere „strategische Rohstoffe“ ohne Genehmigung Moskaus im Westen verhökert, dafür angeblich Lebensmittel gekauft, die Erlöse jedoch größtenteils privatisiert.

Ihrem Bericht hatte die Abgeordnete auch Dokumente beigefügt, die ihre Vorwürfe beweisen. Anfang 2000 ging sie damit sogar an die Öffentlichkeit und warnte die Nation, Putin bei den Präsidentenwahlen im März die Stimme zu geben. Danach zog sie sich in ein Dorf im Gebiet Pskow zurück. Dass Salje, inzwischen 76 und sichtlich krank, ihr Schweigen dieser Tage in einem Exklusivinterview für den russischen Dienst von US-Auslandssender Radio Liberty bricht und die alten Vorwürfe um neue Details ergänzt, ist für hiesige Beobachter ein weiteres Indiz dafür, dass in Russland etwas in Bewegung kommt. Zumal inzwischen auch der direkte Adressat von Saljes Bericht dem Sender Rede und Antwort stand: Juri Boldyrew, damals Leiter der Kreml-Kontrollabteilung.

Die Vorwürfe, so Boldyrew, stimmen. Derartige Deals habe es damals in vielen Regionen gegeben. Auf strafrechtliche Ermittlungen habe Präsident Boris Jelzin dennoch verzichtet. Er habe die Loyalität der regionalen Eliten für die Entmachtung des Parlaments gebraucht. Daher habe er die Kontrollabteilung so umstrukturiert, dass die Spitzenbeamten der Regionen fortan sich selbst kontrollierten. Putin rückte daher kurzzeitig sogar zum Chef der Kontrollbehörde auf.

Dass Boldyrew, der wie die Abgeordnete jahrelang schwieg, sich ausgerechnet jetzt mit derartig brisanten Äußerungen aus der Deckung wagt, macht deutlich, welche Ausmaße eine latente Unzufriedenheit mit sozialer Misere und Reformstaus mittlerweile erreicht hat. Sogar weitgehend loyale Künstler proben den Aufstand. Alt-Rocker Juri Schewtschuk rief seine Groupies zum Boykott von Konzerten auf, die der Staat veranstaltet. Aus gutem Grund: Die Putin-Partei „Einiges Russland“ will sich bei den Wahlen am Sonntag mit kostenlosen Konzerten und Tierpark-Besuchen eine Mehrheit besorgen. 

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