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Politik: Regierungswechsel in USA: Überschattet: George W. Bush hat die Wahl knapp gewonnen, aber noch nicht die Wähler

In der US-Hauptstadt geht es zu wie in Leipzig kurz vor dem Kirchentag und gleichzeitig wie in Berlin während des Bonn-Umzuges. Zunächst die Leipzig-Impression: Überall in Washington sind junge Leute unterwegs.

In der US-Hauptstadt geht es zu wie in Leipzig kurz vor dem Kirchentag und gleichzeitig wie in Berlin während des Bonn-Umzuges. Zunächst die Leipzig-Impression: Überall in Washington sind junge Leute unterwegs. Sie kichern in der U-Bahn, posieren vor Kameras, haben ihren Rucksack mit Verpflegung dabei und streunen scheinbar ziellos umher. Nicht Hunderte, nicht Tausende, sondern Zehntausende. Aus dem ganzen Land sind sie angereist, um bei der Amtseinführung eines neuen Präsidenten dabei zu sein. Und sei es nur am Rande. Denn 300 000 bis 600 000 andere Menschen haben an diesem Sonnabend dasselbe Ziel.

Vieles wird heute anders sein als vor vier Jahren. Zwar hat Bush nicht ein annähernd so inniges Verhältnis zu Stars und Sternchen, wie Bill Clinton es hatte, aber das stört die Neugier nicht. Statt Barbra Streisand, Aretha Franklin, Steven Spielberg oder Jack Nicholson nehmen die Menschen eben mit Sylvester Stallone, Bo Derek, Ricky Martin und Jessica Simpson Vorlieb. Mehr Nashville als Hollywood, mehr Country- und Western-Musik als MTV.

Als nächstes der Umzugseindruck: Wenn in Amerika eine Regierung wechselt, dann wechselt das gesamte Personal, von der Sekretärin bis zum Staatsminister. Mehr als 5000 Menschen suchen Wohnungen und fallen durch Ortsunkenntnis auf. Deshalb sind sehr viele Möbelwagen zu sehen. Außerdem ist die versammelte republikanische Prominenz an diesem Wochenende nach Washington gekommen. Dutzende von Limousinen kurven um Fünf-Sterne-Hotels, plötzlich gibt es Absperrungen, wo es sonst keine gibt.

Am Donnerstagabend fingen die Inaugurations-Turbulenzen mit einem großen Feuerwerk und drei Candlelight-Abendessen an, am Freitag ging es mit mehreren Empfängen weiter, bis Sonntag früh macht die High Society mächtig Ramba Zamba. Und natürlich sind überall Kameras dabei.

Die große, die entscheidende Frage aber ist: Werden all die Festlichkeiten, Feuerwerke und Paraden im Vordergrund stehen und die Bilder prägen - oder die Tatsache, dass es zum ersten Mal seit Richard Nixon wieder Proteste bei einer Inauguration gibt? An Laternenmasten in der Stadt kleben seit Tagen Plakate, an vielen Ecken werden Flugblätter verteilt. Die einen rufen einen "Day of Outrage" aus, die anderen organisieren eine "Gegen-Inauguration". Vor allem ein Slogan macht in diesen regennassen Tagen die Runde. Wenn Bush am Abend mit seiner Frau Laura bei allen acht Bällen auftaucht, wird er jedes Mal von einer Militärkapelle mit dem Lied "Hail to the Chief" begrüßt (in etwa: Hoch soll er leben, der neue Chef). Der Slogan der Demonstranten lautet "Hail to the Thief" (Hoch soll er leben, der Dieb). Bush hat die Wahl gestohlen: Darin sind sich alle einig, denen heute nicht zum Jubeln zu Mute ist. Wie viele es an diesem Sonnabend werden, weiß keiner. Aber viele von denen, die wütend auf die Straße gehen, waren auch 1999 in Seattle dabei, als die Welthandelsorganisation am Pranger stand, und im vergangenen Jahr, als gegen Weltbank und Internationalen Währungsfonds demonstriert wurde. Das Bild, das diese Gruppen abgeben, ist uneinheitlich. Seriöser Protest mischt sich mit dem, was man in Deutschland die Spaßguerilla nennt.

Von ganz anderem Kaliber sind dagegen jene 554 Jura-Professoren, die am vergangenen Wochenende eine ganzseitige Anzeige in der "New York Times" geschaltet hatten. Es gehöre nicht zu den Aufgaben eines Obersten Gerichts, dafür zu sorgen, dass nicht alle Wählerstimmen korrekt ausgezählt werden, heißt es in dem überraschend prononcierten Text. Der Oberste Gerichtshof habe mit seinem Pro-Bush-Urteil die eigene Legitimität besudelt. "Als Professoren, die an 120 amerikanischen Universitäten Recht und Gesetz unterrichten, protestieren wir gegen dieses Urteil." Wahrscheinlich wird es also schwer sein, die Rufe entlang der Pennsylvania Avenue richtig zuzuordnen. Die einen werden Bush bejubeln, die anderen gegen ihn sein, und die Teenager werden kreischen, wenn sie Ricky Martin sehen.

Für Bush und seine Frau beginnt der Tag mit einem Gottesdienst. Dann fahren beide zum Weißen Haus, wo sie mit Hillary und Bill Clinton zum Kaffee verabredet sind. Ob anschließend der scheidende Präsident, wie es die Tradition will, gemeinsam mit seinem Nachfolger im Wagen zum Kapitol fährt, ist noch unklar. Die Amtseinführungs-Zeremonie beginnt dort jedenfalls um 11 Uhr 30 Ortszeit (17 Uhr 30 MEZ). Bush wird, während er den Eid ablegt, seine linke Hand auf dieselbe Bibel-Ausgabe legen, die schon bei der Inauguration von George Washington im Jahre 1789 benutzt wurde - und zuletzt von Bush Senior.

Die Rede des neuen Präsidenten wird kurz sein. Er wolle sich als Präsident aller Amerikaner präsentieren und das Land einigen, sagt sein Sprecher. Wie es heißt, gibt es für Bush seit Tagen kein wichtigeres Thema als diese Rede. Es ist seine erste als Präsident. Bill Clinton wiederum wird in diesen Minuten nur noch der Ehemann einer Senatorin aus New York sein.

Am überzeugendsten hat die "Washington Post" beschrieben, welche Botschaft von diesem Wochenende wohl ausgehen wird - und zwar auf ihrer Kinderseite. "Die meisten werden feiern", heißt es da, "aber nicht jeder wird feiern. Einige werden zeigen wollen, dass sie über den neuen Präsidenten nicht so glücklich sind. Aber auch das gehört zu unserer Demokratie dazu." George W. Bush dürfte das wahrscheinlich anders ausdrücken, etwa: "Auch solche Menschen hat der liebe Gott gemacht."

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