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Der frühere Umweltminister Jürgen Trittin auf dem Bundesparteitag der Grünen in Münster.

© dpa

Matthies meint: Reiche und Raucher – ein Vergleich

Jürgen Trittin warnt: Ein Land, in dem Raucher höher besteuert werden als Reiche, ist ungerecht. Mit der Realität hat das allerdings nicht viel zu tun.

Ein paar Leute glauben beim Lesen des Wortes „postfaktisch“, es bedeute, dass die Post in Teilen von Berlin faktisch nur noch mittwochs und sonnabends zugestellt wird. Völlig falsch: Das ist ein Faktum. Der Begriff „postfaktisch“ hingegen, der längst auch im aktiven Wortschatz der Bundeskanzlerin angekommen ist, besagt etwas völlig anderes: Was kümmern mich schwache Tatsachen, wenn ich starke Gefühle habe? Oder, in den Worten des Berliner AfD-Fraktionschefs Georg Pazderski: „Das, was man fühlt, ist auch Realität.“

Vor diesem mächtigen Begriff hat die reale Realität alten Schlages, also das, was man sehen und anfassen kann, längst kapituliert. Einer der brillantesten Postfaktiker ist Jürgen Trittin – er konnte damit schon virtuos umgehen, als es das Wort noch gar nicht gab. Beim Grünen-Parteitag am Wochenende hat er aber ein griffiges Beispiel, ach was, Paradigma geliefert mit seinem Satz: „Ein Land, in dem Raucher doppelt so viel zum Steueraufkommen beitragen wie Reiche, ist nicht gerecht.“

Dieser Satz war dazu gedacht, den Vermögensteuergegner Winfried Kretschmann auszuhebeln, und er hat diesen Zweck bekanntlich tadellos erfüllt. Doch was besagt dieser Satz inhaltlich? Ist es morgens kälter als draußen? Bezogen auf die Vermögensteuer, die bekanntlich aktuell nicht erhoben wird, ist er zweifelsfrei zutreffend – dann tragen sogar Sekttrinker und Salzstreuer mehr zum Steueraufkommen bei als die Reichen. Was ist mit reichen Rauchern?

Reiche Nichtraucher – wenn wir uns mal auf sie konzentrieren – zahlen haufenweise Steuern. Einkommensteuer, Mehrwertsteuer, Zweitwohnungsteuer, Hundesteuer, Kfz-Steuer, Mineralölsteuer, dazu die Tabaksteuer, die vom Taschengeld der Kinder abgezogen wird, Solizuschlag, Grundsteuer, Grunderwerbsteuer und tausend andere Spezialsorten. Es ist also keine steuerfachliche Spezialausbildung notwendig, um zu erkennen, dass der Trittin-Satz Quatsch ist – auch wenn die Tabaksteuer mit 14 Milliarden einen Haufen Geld bringt.

Aber: Solch demagogisches Gerede heißt eben im Jahr 2016 nicht mehr Quatsch, sondern „postfaktisch“. Der Redner muss es selbst nicht mal glauben, es reicht, wenn sein Auditorium darin die Wahrheit fühlt. Es gäbe nur eine Möglichkeit, Trittins gefühlte Wahrheit auszuhebeln: Die Tabaksteuer müsste gestrichen werden, dann wäre das Land wieder gerecht. Aber so postfaktisch denken nicht einmal die Grünen.

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