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Rekordaußenminister: Die Lehre vom Genscherismus

Vertrauen ist die Maxime des Rekordaußenministers Hans-Dietrich Genscher. Damit leistet der diesjährige Träger der Urania-Medaille einen entscheidenden Beitrag zur deutschen Wiedervereinigung.

Wenn Helmut Kohl der „Kanzler der Einheit“ ist, dann ist der diesjährige Träger der Urania-Medaille ihr Außenminister. Die deutsche Vereinigung war nicht nur die Krönung seines politischen Lebens, das von seinen jungen Jahren an im Schatten der Teilung stand. In dem Beitrag, den er zum Zustandekommen dieses historischen Ereignisses geleistet hat, ist in gewisser Weise auch der Politiker Genscher zu seiner Höchstform aufgelaufen.

Der komplizierte Prozess, der die Nachkriegsspaltung Europas beendete, hat viele Väter, aber er wurde entscheidend vorangebracht durch die berühmt-berüchtigte Außenpolitik made by Genscher, praktiziert zumindest seit der Mitte der 70er Jahre, seit Helsinki-Konferenz und KSZE-Gründung. Also: eine nicht abreißende Folge von Reisen, Begegnungen und Konferenzen, bei denen man manchmal den Eindruck haben konnte, hier stochere einer unentwegt mit der Stange im weltpolitischen Nebel herum. Und deren Frequenz sich in dem Witzwort spiegelte, der rastlose Außenminister sei über dem Atlantik sich selber begegnet.

Doch als sich in den achtziger Jahren die Nebel lichteten und die bipolare Welt der Jalta-Ära sich aufzulösen begann, stellte sich heraus, dass da ein Netz entstanden war, das eine gewagte Politik tragen konnte. Überall hatte Genscher Vertraute oder kannte zumindest die maßgebenden Politiker so gut, dass er wusste, wie sie in seine Rechnung einzustellen waren. Die Außenpolitiker des Westens, die Bakers, Dumas und Hurds gehörten ohnedies dazu. Doch nun zeigte sich, dass es Genscher gelungen war, verlässliche Beziehungen auch zu den Politikern des Ostens herzustellen, allen voran dem sowjetischen Außenminister Schewardnadse. Als es ernst wurde, konnte Genscher zum Beispiel auch auf den Ungarn Gyula Horn bauen. Insofern ist der in die Geschichte eingegangene Prag-Auftritt Genscher pur: New-York-Reise in der Woche zuvor, hektische Aktivitäten am Rande der UN-Sitzung, Telefongespräche mit den Außenministerkollegen der CSSR und Polens, Zwischenstopp für ein paar Stunden in Bonn, dann die historische Erklärung vom Botschaftsbalkon. Der deutsche Außenminister sei, so formulierte Richard von Weizsäcker, „in unserer Welt die vertrauensbildende Maßnahme in Person“ gewesen.

Dabei war Genscher bis zu dem Augenblick, an dem er 1974, in der Folge der großen Rochade von Brandt zu Schmidt, das Amt übernahm, außenpolitisch ein unbeschriebenes Blatt. Dem Innenminister hing der Ruf an, in erster Linie ein gewiefter Praktiker zu sein, zu Hause in den Niederungen der Innenpolitik. Ohnedies ging ihm das Weltläufige empfindlich ab. Selbst der „Genscherismus“, die Formel, die das schwer Begreifbare an seiner Art, Politik zu machen, auf den Begriff zu bringen versucht, war ursprünglich auf den Innenpolitiker bezogen. Umso mehr wurde die Methode, sich möglichst viele Optionen offenzulassen und die Situation so zu interpretieren, dass sie der eigenen Richtung entspricht, zum Markenzeichen des Außenpolitikers.

Es erwies sich auch, dass Genschers Politikstil sich fruchtbar mit der Logik verband, die nach seiner Überzeugung der deutschen Außenpolitik zugrunde liegen müsse. Es war die Logik der Entspannungspolitik. Genscher, gebranntes Kind als Noch-Kriegsteilnehmer und Betroffener der deutschen Teilung, glaubte fest daran, dass eine Politik der Konfrontation den Deutschen schaden werde, eine Politik der Kooperation ihnen dagegen nützen könne. Sein Credo ist: Nur wenn es ihnen gelingt, Konflikte abzubauen und Schritt für Schritt ein Klima des Vertrauens herzustellen, gibt es für sie die Chance, ihre Stimme zur Geltung zu bringen. Die Chance kam in den achtziger Jahren mit Gorbatschows Reformideen, sie wurde zur historischen Möglichkeit 1989, als in den Ländern Ostmitteleuropas die Reformkräfte an Boden gewannen. Damals prägte der Liberale das Wort von der „europäischen Freiheitsrevolution“: Mit einem Pathos, das ihm sonst fremd ist, gab er den Entwicklungen den fanalhaften Ausdruck.

Mit der großen Zeitenwende von 1989 ist die Geschichte weit über den Abbau der Blockkonfrontation hinausgegangen. Eine neue internationale Szenerie ist entstanden, offener, als sie im letzten Jahrhundert je war, bestimmt von neuen Machtzusammenballungen, vor allem in Asien, und weltweit dominiert vom Druck der Globalisierung. Für den Außenpolitiker Genscher bedeutet das erst recht die Notwendigkeit einer Politik der Kooperation. Den Leitbegriff dafür hat er schon vor geraumer Zeit in die Debatte geworfen: Er heißt „Weltinnenpolitik“. Das meint, die traditionelle, nationalstaatlich verankerte Politik muss sich gegenüber einer Wirklichkeit öffnen, die alle Grenzen überschreitet. Der Außenminister mit der legendären Dienstzeit – achtzehn Jahre waren es, als er sich 1992 zurückzog – hat längst die Zukunft im Auge.

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