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Religion und Staat: Russen fürchten Macht der Kirche

In einem Schreiben an den russischen Präsidenten Putin warnen Wissenschaftler vor den großen Einfluss der Kirche. Russland sei auf dem Weg zu einer klerikalen Gesellschaft.

Russland sei auf dem Weg zu einer klerikalen Gesellschaft, die orthodoxe Kirche versuche, „mit allen Mitteln den religiösen Glauben zu stärken und ihn der Gesellschaft aufzuzwingen“. So steht es in einem offenen Brief an Präsident Wladimir Putin. Verfasser sind zehn prominente Mitglieder der russischen Akademie der Wissenschaften, darunter zwei mit dem Nobelpreis ausgezeichnete Physiker: Shores Alfjorow und Witali Ginsburg. Mit ihrer Kritik am „steigenden Einfluss der Kirche in allen Bereichen des öffentlichen Lebens“ artikulieren sie erstmals öffentlich Ängste, die große Teile der Bevölkerung umtreiben.

Zwar gilt auch in Russland nach der Verfassung die Trennung von Staat und Kirche. Praktisch sind die Popen inzwischen aber eine Art fünfte Gewalt. Mitspracherechte, wie Ex-Präsident Boris Jelzin sie dem Klerus in seinen letzten Jahren eher widerwillig einräumte, baute Nachfolger Putin zügig aus. Weil im Kreml bisher niemand in der Lage war, eine neue nationale Idee für das postkommunistische Russland zu finden, soll die Religion die Lücke füllen.

Popen schwenken daher Weihrauchkessel über Atom-U-Booten und bis vor kurzem auch jenen Waffen, mit denen Moskau in Tschetschenien bis zu 200 000 Zivilisten massakrierte. Ranghohe Kleriker stehen bei Staatsakten neben Spitzenpolitikern. Ausgerechnet die Führung der Russisch-Orthodoxen Kirche, die Mitte der Neunziger in diverse Skandale wegen unverzollter Einfuhr von Schnaps und Zigaretten verstrickt war, spielt sich zunehmend auch als oberste moralische Instanz der Nation auf und mischt sich aggressiv in Bildung und Erziehung ein.

Patriarch Alexi II. besteht auf gleichberechtigter Behandlung von Darwins Evolutionstheorie und biblischer Schöpfungslegende im Biologieunterricht auch in staatlichen Schulen. Wenn jemand meine, er stamme vom Affen ab, habe er noch lange nicht das Recht, diese Meinung anderen aufzunötigen, zürnte er, als eine 15-jährige Schülerin aus St. Petersburg klagte, weil sie durch Darwins Lehre ihre „religiösen Gefühle besudelt“ sah.

Putin, von dem Akademiker wie Kirchenväter ein Machtwort erwarten, schweigt. Aus gutem Grund: Ölboom und rasantes Wirtschaftswachstum haben die Lage der sozial schwachen und wenig gebildeten ländlichen Bevölkerung bisher kaum verändert. Sie sucht ihr Heil inzwischen bei klerikal-faschistoiden Nationalisten wie Dmitri Rogosin und dessen neuer Partei „Groß-Russland“. Die könnte, wenn im Dezember das Parlament neu gewählt wird, ein Viertel aller Mandate kassieren. Um einschlägige Bedrohungen zu neutralisieren, hat der Kreml die Wahl zwischen Pest und Cholera: Wahlfälschung oder Übernahme von Kernsätzen christlich-fundamentalistischer Programmatik.

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