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Revolution in Ägypten: Droht ein Bürgerkrieg?

Die Spannungen in Ägypten haben sich extrem verschärft. Die Muslimbrüder rufen zum Aufstand auf und Ägypten steuert ohne Regierung auf den Abgrund zu. Wie geht es nun weiter?

Es war ein Blutbad, das in der modernen Geschichte Ägyptens beispiellos ist: Nachdem bei gewaltsamen Auseinandersetzungen zwischen der Armee und demonstrierenden Muslimbrüdern am frühen Montagmorgen mehr als 50 Menschen getötet wurden, haben sich die Spannungen im ganzen Land extrem verschärft. Durch den Austritt der salafistische Al-Nour-Partei aus den Gesprächen zur Regierungsbildung kam der politische Prozess zur Bildung einer Übergangsregierung komplett zum Erliegen. Das Land droht im Chaos zu versinken.

Wie kam es zu den blutigen Auseinandersetzungen?

Die Angaben sind widersprüchlich. Augenzeugen berichteten, die Uniformierten hätten gegen vier Uhr Morgens kurz vor Ende des Frühgebets das Feuer auf die Menge eröffnet, die seit Tagen vor dem Hauptquartier der Republikanischen Garden demonstriert. Dort vermuten die Demonstranten – Muslimbrüder und andere Anhänger – den gestürzten Präsidenten Mohamed Mursi. Die Armee verbreitet eine andere Version: Eine Gruppe von Terroristen habe versucht, die Kaserne anzugreifen, andere hätten von einem Hochhaus aus Soldaten mit Steinen und Brandsätzen beworfen.

„Diese Vorfälle können nicht mit Worten beschrieben werden“, erklärten Ärzte der Muslimbrüder auf einer aufgebrachten Pressekonferenz, die neben der Raba al Adawiya Moschee ein Notlazarett unterhalten, welches von der Zahl der Verwundeten total überwältigt wurde. Auf dem Boden lagen reihenweise Leichen. Die Mediziner beschimpften Generalstabschef General Abdel Fattah al Sissi als „Schlächter“ und „Mörder“. Der Asphalt am Ort des Geschehens war am Morgen übersät mit Blutlachen. Geparkte Autos und Straßenlampen waren durchsiebt von Gewehrkugeln. Der Kugelhagel kam offenbar von einem Gebäude, auf dessen Dach mit Sandsäcken geschützte Maschinengewehrnester zu sehen sind. Videos der Ausschreitungen zeigten Soldaten, die über die Kasernenmauer hinweg gezielt auf die Menge schossen. Aktivisten der Muslimbrüder stellten leere Patronenkästen mit der Aufschrift „Ägyptische Armee“ sicher. Zahlreiche Blutlachen und Einschüsse waren hunderte Meter von dem Wachgebäude der Kaserne entfernt und legen den Schluss nahe, dass die Soldaten auch auf die fliehende Menge feuerten.

Überlebende Augenzeugen zeichneten alle ein ähnliches Bild der Abläufe. Die Angriffe seien ohne jede Vorwarnung erfolgt zuerst mit Tränengas, dann mit scharfer Munition. In der Menge sei totale Panik ausgebrochen, auch weil es zum Zeitpunkt des Massakers noch dunkel war. Dagegen erklärte ein Soldat im Staatsfernsehen, die Protestierer hätten zuerst gefeuert und die Truppen mit Steinen und Molotow-Cocktails beworfen. „Ich stand inmitten von allem, als jemand von hinten kam und mich mit einer Eisenstange niederstreckte“, sagte er.

Nachdem man bei den Demonstranten Waffen gefunden hatte, ordnete die Justiz die Schließung der Zentrale der islamistischen Partei für Freiheit und Gerechtigkeit an, dem politischen Arm der Muslimbrüder. Die Armee errichtete im Laufe des Tages Sperren an allen großen Einfallsstraßen nach Kairo und Giza.

EU denkt über Kürzungen der Finanzhilfen nach

Wie geht es nun weiter?

Der Prozess der erhofften Regierungsbildung ist erst einmal zum Erliegen gekommen, nachdem die Al-Nour-Partei (Partei des Lichts), der islamistische Partner in der Anti-Mursi-Front, ihren vorläufigen Rückzug aus den Gesprächen angekündigt hat. Die ultra-konservative Organisation, die noch bis vor kurzem mit der Muslimbruderschaft verbündet war, ließ über einen Sprecher ausrichten: „Es ist, als ob das alte Regime (von Husni Mubarak) wieder in vollem Harnisch zurück wäre.“ Der gemäßigte Islamist Abdel Moneim Abul Futuh, auch er ein Mursi-Gegner, verlangte den Rücktritt des in der Vorwoche ernannten Übergangspräsidenten Adli Mansur. Viele befürchten jetzt, dass Ägypten auf einen Abgrund zusteuert: ohne Regierung, ohne Verfassung, mit Militärs am Ruder und immer zornigeren Islamisten auf der Straße, mit derGefahr einer unaufhaltsamen Eskalation der Gewalt.

Wie reagierte das Ausland?

Die Europäische Union verurteilte die ausufernde Gewalt in Ägypten und deutete mögliche Auswirkungen auf ihre Finanzhilfen an. „Wir überprüfen ständig unsere Unterstützung für Ägypten und können sie – je nach Lage vor Ort – auch anpassen“, sagte der Sprecher von EU-Chefdiplomatin Catherine Ashton am Montag. „Wir verurteilen und bedauern die Gewalt. Wir erwarten, dass der politische Prozess auf friedlichem Wege fortgeführt wird“, fuhr Ashtons Sprecher fort. „Zum gegebenen Zeitpunkt“ könne dafür auch eine „politische Mission“ der EU nach Kairo entsandt werden. Die Brüsseler Finanzhilfen fließen den Angaben zufolge nicht direkt ins ägyptische Staatsbudget, da Kairo die erwarteten Reformfortschritte bislang vermissen lässt. Stattdessen würden Nichtregierungsorganisationen und zivilgesellschaftliche Gruppen unterstützt. Für den Zeitraum 2012 bis 2013 sind in der EU-Finanzplanung fast fünf Milliarden Euro an Darlehen und Zuschüssen vorgesehen.

Auch der türkische Außenminister Ahmet Davutoglu verurteilte die Zusammenstöße scharf und bezeichnete sie als „Massaker“. „Ich übermittle dem ägyptischen Brudervolk mein Beileid“, twitterte er am Montag. Die türkische Regierung spricht im Zusammenhang mit der Absetzung des gewählten Präsidenten von einem nicht akzeptablen „Militärputsch“. Sie kritisiert zugleich die EU, weil sie den Umsturz nicht als Putsch bezeichnet. mit AFP/dpa

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