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Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger.

© Michael Reichel/dpa

Holocaust-Überlebende Ruth Klüger im Porträt: Rückkehr in ein anderes Deutschland

Die Holocaust-Überlebende Ruth Klüger spricht heute vor dem Bundestag. Vom Engagement für Flüchtlinge in Deutschland ist sie beeindruckt.

Über die Vergangenheit hat Ruth Klüger schon oft gesprochen. „Aber diesmal ist es anders“, sagt die 84-jährige Holocaust-Überlebende. Denn wenn sie an diesem Mittwoch in der Gedenkstunde des Bundestags für die Opfer des Nationalsozialismus eine Rede hält, will sie auch die Gegenwart ansprechen. Gerade jetzt in Deutschland zu sein, bedeutet der früheren Germanistik-Professorin viel.

Von den USA aus hat sie „mit großer Faszination“ in den Zeitungen die Aufnahme der vielen Flüchtlinge in Deutschland verfolgt. Dass sie die Einladung nach Berlin annehmen würde, war keineswegs selbstverständlich. Denn eigentlich reist sie in ihrem Alter nicht mehr gern. Sichtlich erschöpft ist die kleine Frau mit den kurzen grauen Haaren von der Reise. Doch Ruth Klüger wollte dieses andere Deutschland unbedingt aus der Nähe erleben.

Lob für Merkels Flüchtlingspolitik

Sie bewundere die Kanzlerin für ihre Flüchtlingspolitik, sagt sie. „Dass es so viele Menschen in Deutschland gibt, die diese Politik bejahen und die nicht nur bejahend mit dem Kopf genickt haben, sondern sich einsetzen als Helfer für Flüchtlinge, das beeindruckt mich sehr“, sagte sie dem Tagesspiegel. „Die Leute geben ihre eigene Zeit, sie geben etwas von sich selbst, um andere aufzunehmen. Für mich, mit meiner Kindheit und als Jüdin, ist das etwas Neues.“

Ruth Klüger hat von 1988 bis 1990 in Göttingen gelebt und fühlt sich heute wieder an die Wendezeit erinnert. „Ich habe heute das Gefühl, dass etwas von dem großen Wind, der damals durch das Land fuhr, auch jetzt spürbar ist.“ Nun sei zu hoffen, dass die positiven Kräfte die Oberhand behielten. „Man kann die Deutschen nur dazu ermutigen, diese offene Politik weiterzuführen, und betonen, dass die Welt davon beeindruckt ist.“

In ihrer Rede vor den Abgeordneten wird Ruth Klüger vor allem als Zeitzeugin sprechen. Der Bundestag wünscht sich das Thema Zwangsarbeit. Darüber kann sie aus eigener Erfahrung berichten. Als Zwölfjährige hat sie im Lager Christianstadt, einem Außenlager von Groß-Rosen, selbst Zwangsarbeit leisten müssen. Im Wald mussten die Frauen Bäume fällen, die Stümpfe ausgraben und in einem Steinbruch arbeiten. Jahrzehnte später, in den Göttinger Wendejahren, hat Klüger ihre Lebensgeschichte in dem Buch „weiter leben – Eine Jugend“ aufgeschrieben. In dem preisgekrönten, von der Kritik gefeierten und von vielen Deutschen gelesenen Buch schildert sie Hunger, Kälte und Erschöpfung als tägliche Begleiter im Arbeitslager.

Drei Lager hat Ruth Klüger überlebt - auch Auschwitz

Christianstadt ist das dritte Lager, das Ruth Klüger überlebt hat. Mit elf Jahren wird sie mit ihrer Mutter von Wien, der Stadt ihrer Kindheit, nach Theresienstadt deportiert. Von dort wird sie anderthalb Jahre später in einer albtraumartigen Fahrt in einem Viehwaggon nach Auschwitz gebracht. Der Zug hält an der Rampe des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau. „Auf diese Rampe falle ich heute noch“, schreibt sie später in ihren Erinnerungen.

Die Juden aus Theresienstadt werden nicht von der Rampe aus direkt in die Gaskammern geschickt, sondern ins Lager gebracht. Am ersten Abend schlägt die Mutter ihr vor, gemeinsam in den elektrischen Stacheldrahtzaun zu gehen, um dort zu sterben. Entsetzt lehnt die Zwölfjährige ab, die Mutter erwähnt es nicht mehr. Auch nach dem Krieg reden sie nie wieder darüber.

Eines Tages gibt es doch eine Selektion, die SS sucht arbeitsfähige Frauen zwischen 15 und 45 Jahren. Ruth Klügers Mutter wird für den Transport nach Christianstadt ausgewählt, doch die Tochter nennt ihr Alter und wird zur anderen Seite geschickt. Ihre Mutter überredet sie, sich heimlich noch ein weiteres Mal in die Schlange zu stellen. Auf den Rat einer anderen Gefangenen hin sagt sie, dass sie schon 15 Jahre alt sei.

„Alle Berichte, die ich über die Selektionen kenne, bestehen darauf, dass die erste Entscheidung immer endgültig war, dass kein auf die eine Seite Geschickter, und dadurch zum Tod Verdammter je auf die andere Seite gekommen ist“, schreibt Ruth Klüger später. Doch sie schafft es, auf die andere Seite zu kommen – und gehört deshalb zu den jüngsten Überlebenden des Vernichtungslagers.

Nach Auschwitz fährt sie nie wieder

Nach Auschwitz ist Ruth Klüger nie zurückgekehrt. Kurz nach Kriegsende geht sie in die USA. Die deutsche Sprache wird ihre zweite Heimat, sie studiert Germanistik und lehrt später in Princeton und Irvine. Als sie an einer Tagung für Germanistik in Krakau teilnimmt, besuchen die Kollegen das ehemalige nationalsozialistische Vernichtungslager, das sich in unmittelbarer Nähe befindet. Klüger fährt als Einzige nicht mit. „Ich war einmal dort, und einmal ist genug“, sagt sie.

Zu diesem Zeitpunkt hält Klüger wenig von Gedenkstätten in den ehemaligen Lagern, die sie in ihrem Buch scharf kritisiert. Heute sagt sie, es bestehe tatsächlich die Gefahr, dass diese Orte der Selbstbespiegelung dienten. Dass sich der Besucher als guter Mensch sieht, der sich einfühlen kann in das Geschehen im Lager.

Zugleich betrachtet sie heute die Arbeit der Gedenkstätten in einem anderen Licht und betont, sie müsse die Kritik von damals revidieren. „Das Gedenken ist im Laufe der Zeit verfeinert und genauer geworden.“ Das Geschichtsbewusstsein werde in den Gedenkstätten gestärkt. Überhaupt lobt die Überlebende den Umgang der Deutschen mit der NS-Vergangenheit: „Die Deutschen waren ihrer Vergangenheit gegenüber offener als jedes andere Land.“

Dass sie damals in Krakau nicht nach Auschwitz fahren konnte, habe wohl daran gelegen, dass der Ort für sie doch wichtiger gewesen sei, als sie zugeben wollte, sagt Ruth Klüger heute. „Der Grund, warum ich nicht hinwollte, ist nicht so sehr, dass ich schon mal dort war und alles darüber weiß, sondern dass ich vielleicht doch ein bisschen Angst gehabt habe, dass ich wieder in ein Loch fallen werde.“

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